Die Zukunft des Eishockeys

Die Zukunft des Eishockeys

Sagen dir die Namen Darryl Metcalf, Eric Tulsky oder Tyler Dellow etwas? Nein? Nicht schlimm.

Der Chemieingenieur, der Physiker und der Anwalt aus Kanada lieben Eishockey, sind relativ unbekannt und bleiben im Hintergrund. Trotzdem gehören sie zusammen mit einer Handvoll weiterer Figuren zu den wichtigsten Schaffern des neuen Eishockeys.

Spätestens seit „Moneyball“ ist bekannt, dass sich eine Sportmannschaft mit Hilfe von statistischen Auswertungen einen Vorteil verschaffen kann. „Moneyball“ basiert auf der Geschichte der Oakland Athletics, einem finanzschwachen Baseball Team, das für Furore sorgte, als es mit „mittelmässigen“ Spielern grosse Erfolge feiern konnte. Der Grund: Die Athletics wussten um ihre Limiten, und begannen, neue Wege zu gehen, um das Beste rauszuholen, was die finanziellen Mittel erlaubten. Sie entwickelten neue Statistiken und Analysen, und konnten so die ideale Besetzung für ihr Team finden. Und sie waren damit sehr erfolgreich.

Es dauerte nicht lange, bis das Phänomen „Athletics“ die Runde machte, und alle Baseball Teams begannen, diese neuen Statistiken anzuwenden. Wer in der MLB Erfolg haben wollte, brauchte diese Art von Informationen.

GRHeute sprach mit Dennis Twombley, Pro Scout des Baseball Teams New York Yankees, und es wird klar, dass diese Zahlen mittlerweile unersetzlich sind: „Wir haben Softwares, die jeden Spieler, in jeder Situation, zu jedem Moment in Echtzeit via Video tracken. Das ist ein unglaubliches Volumen an Informationen und Zahlen. Ausgewertet ergibt sich daraus ein klares Bild, welche Spieler effizient sind“, erklärt Twombley im Interview. „Wenn man nur das Spiel anschaut, so hat Spieler X vielleicht mehr Homeruns erzielt als Spieler Y. Wenn man nun aber die Zahlen genau anschaut, merkt man, dass Spieler Y gegen einen besseren Pitcher gespielt hat, schwierigere Situationen hatte, oder eine andere Aufgabe erfüllte. Es ergibt sich dann dank diesen Erkenntnissen ein neues Bild, nämlich das Spieler Y in gewissen Spielsituationen bessere Erfolgschancen hat.“ Auf die Frage, ob es trotzdem noch alte Hasen im Geschäft gibt, die auf ihre Erfahrung zählen, winkt Twombley ab: „Die statistische Revolution hat unseren Sport komplett verändert. Mit den früheren Taktiken wie Bauchgefühl und guter Eindruck lässt sich heute praktisch nichts mehr gewinnen.“

Und was hat das mit Eishockey zu tun?

Diese statistische Revolution, die auch als „Advanced-Stats-Movement“ bekannt ist, dominiert seit ein paar Jahren die Eishockeylandschaft. Zuerst als Internetphänomen belächelt, ist die Statistik-Bewegung innert kürzester Zeit zu einem wichtigen Teil in den NHL-Organisationen geworden. Die NHL-Website beinhaltet mittlerweile alle neuen Statistiken und verleiht ihnen so offiziellen Charakter. Corsi, Fenwick, PDO gelten heute mitunter zu den besten Indikatoren für die Leistung eines Spielers.

Bis 2013 war die Diskussion noch einigermassen offen: Die Traditionalisten hielten an Werten wie Herz und Leidenschaft fest, und zitierten Checkstatistiken und Anzahl geblockte Schüsse. Alteingesessene wiesen darauf hin, dass Wille und Einsatz eines Spielers unersetzlich sind und es eine Winner-Mentalität braucht, um zu siegen. Die Statistiker verneinten dies nicht, wiesen aber auf neue Zahlen und Fakten hin, die bessere Prognosen als das Bauchgefühl oder traditionelle Statistiken abgeben sollen.

Als Schlüsselelement im ganzen Kampf standen die Toronto Maple Leafs 2013.

 

Die Maple Leafs, das wohl ‚wichtigste’ Team der Welt, hatten seit Jahren keinen Erfolg. Und das im Zentrum des Hockey-Universums, als wertvollste Organisation der Liga. Es musste etwas geschehen.

Vor der Saison 2013/14 verteilte das Management Verträge, die das Team stärken sollten. Clarkson, Phaneuf, Bolland: Alles Spieler mit viel Leidenschaft. Sie sollten Toronto aus der Misere holen, mit Leadership und Charakter. Was das Ganze so speziell machte, war, dass die Statistik-Gemeinde genau diese Namen immer wieder als typische Beispiele für überbewertete Spieler aufzählte.

Für die Traditionalisten war klar: Die Leafs sind ein starkes Team. Für das Stats-Movement war klar: Toronto wird keinen Erfolg haben. So wurden die Maple Leafs unfreiwillig zur Beweisführung für beide Seiten in einem teilweise hässlichen Krieg um Eishockey-Wissen. Und man schaute gespannt auf die anstehende Saison: Schaffen die Leafs die Playoffs, so ist bewiesen, dass eben doch ‚weiche’ Faktoren entscheidend sind. Schaffen die Leafs die Playoffs nicht, so ist endgültig bewiesen, dass die neuen Statistiken eine bessere Prognose abgeben als der ‚Augentest’.

Die Leafs starteten furios in die neue Saison und lagen bis November ganz vorne in ihrer Division. Die alten Eishockey-Traditionalisten rieben sich die Hände und jubelten bereits.

 

(Im Zentrum der ganzen Diskussion stand die Statistik Corsi. Corsi ist eigentlich eine erweiterte Schuss-Statistik, meist in Form einer +/–Bilanz. Anders als die traditionelle Schuss-Statistik werden aber auch Schüsse neben das Tor, geblockte Schüsse und Pfostenschüsse dazugezählt. So ergibt sich eine höhere Anzahl an Ereignissen und es kann genauer gesagt werden, wer im Scheibenbesitz war. Und das ist die Grundaussage der Analytiker: Je mehr Scheibenbesitz, desto höher die Gewinnchance.)

Die Leafs wiesen bis zu diesem Zeitpunkt praktisch durchs Band schlechte Corsi-Werte auf, konnten aber immer wieder glückliche Siege feiern. Charakter-Siege.    

Und dann kam die (prognostizierte) Wende. Oder was Statistiker als Regression bezeichnen. Die Zahlen manifestierten sich in Niederlagen, die Leafs fielen in ein Loch, fielen in der Tabelle zurück, und fielen schlussendlich klar aus den Playoffs. Am Ende waren die Leafs eines der zehn schwächsten Teams der Liga. Die erfahrenen, mittelmässigen Spieler floppten durchs Band.    

Die Diskussion war ein für alle Mal entschieden, die Traditionalisten gaben klein bei.  

Im darauffolgenden Sommer die Konsequenz: Die Toronto Maple Leafs engagierten den Anwalt und Hockeyfan Darryl Metcalf (bekannt für die Statistik-Website extraskater.com) als Analytiker. Seine Website wurde vom Netz genommen, sein Hobby wurde zum Beruf gemacht. Tyler Dellow, auch bekannt als Mc79hockey, wurde umgehend von den Edmonton Oilers verpflichtet. Sein Statistik-Blog wurde vom Netz genommen. Eric Tulsky analysiert vollzeitlich für die Carolina Hurricanes, seine Website wird nicht mehr aktualisiert. Bereits mehr als die Hälfte aller NHL-Teams haben einen Statistiker aus dem Advanced-Stats-Movement verpflichtet.      

Und es ist nicht falsch. Eishockey soll sich weiter entwickeln. Genau so, wie es sich schon seit einem Jahrhundert stetig weiter entwickelt. Es gab schon viele revolutionäre Epochen, die den Sport international prägten. Wie in jeder anderen Sportart geht es darum, die Leistung zu perfektionieren. Wenn es dabei hilft, herauszufinden, wann und in welcher Situation ein Spieler bessere Chancen hat, zu performen, dann soll das auch genutzt werden.      

Im American Football werden teilweise bis zu 20 Spieler als Starter in der Defense angegeben. Das kommt daher, dass es im Football normal ist, spezifische Spieler in spezifischen Situationen einzusetzen. Je nach Down & Distance schickt ein Coach vier, fünf oder sechs Defensive Backs aufs Feld. Diese Spezifizierung ist nichts anderes als das taktische Erkennen, welcher Spieler in welcher Situation die beste Leistung bringen kann.

Vor Jahren sorgte Ralf Krueger mit dem Unwort „Heimnachteil“ für Schlagzeilen und die Medien bauschten die Story dementsprechend auf. Als Bob Hartley ein paar Jahre danach als ZSC-Lions-Coach zu diesem Thema befragt wurde, antwortete er ungläubig: „Wieso? Als Heimteam kann ich doch als Letztes wechseln, und so die passenden Spieler aufs Eis schicken. Wenn der Gegner die Top-Linie bringt, kann ich meine besten Defensiv-Stürmer bringen. Da bin ich als Heimteam doch klar im Vorteil.“ Kruegers Wortwahl stand damals zwar in einem anderen Kontext. Unabhängig davon ist dies heute eine Erkenntnis, die wohl keiner mehr hinterfragt.    

Viele Teams werden früher oder später solche Mittel nutzen. Wie in der MLB, wo die Oakland Athletics mittlerweile wieder notorische Kellerkinder sind.    

Und um noch einen aktuellen Bezug zum Bündnerland herzustellen: Nino Niederreiter hat seit zwei Saisons überdurchschnittliche Corsi-Werte.  

(Bild: Icon SMI/EQ Images)

author

Richi Brändli

Redaktor Eishockey
Ehemaliger Kolumnist bei GRHockey, Plausch-Spieler und Fan von regionalem bis internationalem Eishockey.