Die Tochter eines Selbstmörders

Die Tochter eines Selbstmörders

«Ich weiss nicht, wieso es heisst, der Suizid eines geliebten Menschen lasse alles andere banal erscheinen, wenn es doch der Suizid ist, der selbst das Banale in eine Hölle verwandelt.»

So eröffnete die junge österreichische Autorin und Journalistin, Saskia Jungnikl (34), am Freitag den Eröffnungsanlass der 2. Bündner Aktionstage «Wie geht’s dir?» des Gesundheitsamtes Graubünden und sprach unerschrocken und ehrlich über ihre Erfahrungen als Tochter eines Selbstmörders.

Suizid betrifft dich und mich

Saskia hat 2008 ihren Vater durch Suizid verloren. Bereits vier Jahre zuvor, ihren jüngeren Bruder. Das Schreiben ihres Debüt-Romans «Papa hat sich erschossen» war Teil ihrer Aufarbeitung. Anlässlich des Weltsuizidpräventionstages vom Freitag, 9. September las Saskia vor rund 80 Besucherinnen und Besucher im Restaurant B12 in Chur daraus und berührte die interessierten Zuhörer mit ihrer bewegenden Geschichte. Gemeinsam mit drei weiteren Gästen, die an diesem Abend ihre persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Suizid in einer anschliessenden Podiumsdiskussion offen darlegten, teilten sie ihr Wissen fürs Leben. Dabei sprachen sie offen und unverblümt über ein Thema, das heute in der Gesellschaft nach wie vor tabuisiert wird. Moderiert wurde der Abend von Melanie Salis, Radio Südostschweiz.

podiumsdiskussion suizid

«Am 6. Juli 2008 kritzelt mein Vater eine dürre Nachricht auf einen mintgrünen Post-it-Zettel. Dann steigt er die Wendeltreppe hinunter und holt seinen Revolver. Er geht nach draussen, dort legt er sich unter unseren alten grossen Nussbaum. Seine Hausschuhe lässt er an. Ein kleines Detail neben vielen anderen, über das ich mich noch oft wundere. Ich weiss nicht, ob er irgendwann gezögert hat. Ich glaube, er wird noch einmal tief eingeatmet haben, als er da lag. Vielleicht hat er sich noch kurz die Sterne angesehen und der Stille gelauscht. Dann schiesst er sich in den Hinterkopf.»

Passagen wie diese, liessen die Zuhörer nur ansatzweise erahnen, mit welchem Schmerz, welcher Trauer und Wut Saskia Jungnikl all die Jahre über zu kämpfen hatte. Die junge Autorin und Journalistin sprach in einem bewegenden Interview mit GRHeute über das tragische Ereignis und ihr Leben danach.

Saskia, schön, dass du dir nach dieser ergreifenden Podiumsdiskussion Zeit für ein Gespräch unter vier Augen genommen hast. Wie geht’s dir?

Gut. Mir schwirrt ein bisschen viel im Kopf umher, aber es geht mir gut.

Du sprichst ganz unerschrocken und direkt über die Geschehnisse. Beispielsweise sagst du nicht «mein Vater ist tot», sondern «mein Vater hat sich erschossen». Eigentlich paradox, oder?

Ja, ich weiss gar nicht. Es kommt mir selber nicht so vor. Aber es spielt sicher eine Rolle, dass es zeitlich ein bisschen her ist und ich viel Zeit damit verbracht habe, darüber nachzudenken. Und ich glaube, dass dieses «Unerschrockene», der Zugang ist, den ich haben möchte. Es gibt bei diesem Thema von allen Seiten her eine sehr grosse Unsicherheit und Angst. Ich finde jedoch, es ist ein Thema, worüber man sprechen sollte und zwar genauso wie es ist. Man soll es nicht überdramatisieren, aber man sollte es beim Namen nennen. Es ist ein Problem und ich glaube, man kann Probleme nur lösen, wenn man darüber spricht.

Auffallend, wie oft du während deiner Lesung und der anschliessenden Podiumsdiskussion den Blickkontakt zu deinem Mann Florian gesucht hast. Ist er dein Fels in der Brandung?

(lacht) Ja. Der Florian trat erst vier Jahre nach dem Tod meines Vaters in mein Leben. Damals ging es mir bereits viel besser, doch er hat mich gelehrt und mir gezeigt, wie ich wieder vertrauen kann und wie ich mir selber wieder vertrauen kann. Florian hat von Anfang an, an mich geglaubt und an das was ich kann und wer ich bin. Ich bin einfach nur so glücklich darüber, dass ich ihn in meinem Leben habe.

Hast du von deinem Vater Signale erhalten, dass er mit Suizidgedanken kämpft? Wenn ja, welche und hättest du es verhindern können?

Darüber habe ich in meiner Vergangenheit natürlich viel nachgedacht. Heute weiss ich so viel über Suizid, wie ich damals niemals wusste. Und jetzt im Nachhinein fällt mir natürlich auf, dass Anzeichen vorhanden waren. Doch damals war der Gedanke, dass er sich töten könnte, niemals präsent. Nach dem Tod meines Bruders, vier Jahre zuvor, ging es ihm nur noch schlecht. Das wussten wir alle. Er hat sich verändert, war depressiv. Wir waren für ihn da, haben versucht mit ihm zu reden, ihn gebeten, einen Therapeuten aufzusuchen, aber das wollte er nicht. Man kann Hilfe anbieten, aber man muss sie nicht annehmen. Und wenn sie eben nicht angenommen wird, dann funktioniert das halt nicht. Dazu kommt, dass wir ein Vater-Tochter-Verhältnis hatten und hier die Respekt-Frage im Vordergrund stand. Nein, verhindern hätte ich es nicht können. Wenn sich jemand wirklich töten will, dann findet er oder sie einen Weg das zu machen.

Mit 34 Jahren hast du mehr Erfahrungen und Schicksalsschläge erlebt, als so manch anderer. Kannst du daraus auch ein positives Fazit ziehen?

Das Positive ist, dass ich wieder grosses Vertrauen in mich selbst gewonnen habe und heute wieder ein sehr glückliches Leben führen darf. Zudem schätze ich die kleinen Dinge im Leben wieder viel mehr. Heute habe ich grossen Respekt vor dem, was mir täglich passiert und wiederfährt. Sehe die Dinge mit anderen Augen, kann mich über die kleinen Sachen im Leben wahnsinnig freuen und geniesse die stillen Momente viel bewusster als in meinem Leben davor. Ich schätze viel mehr die Menschen in meinem Leben und geniesse jeden Moment mit ihnen an meiner Seite.

Dein Buch «Papa hat sich erschossen» ist einerseits ein Erzähl-Roman, andererseits hast du damit deine eigene Trauer verarbeitet. Wie ging es dir dabei?

Das Buch zu schreiben war unglaublich befreiend für mich und gleichzeitig eine Selbstthera-pie vom Feinsten. Ich habe es mir so richtig von der Seele geschrieben und hatte dabei auch das Gefühl, dass ich die letzten fünf Jahre nochmals wiedererleben durfte. Ich hatte dabei natürlich viel geweint, aber ebenso viel gelacht, weil mich Erinnerungen an meine Kindheit, die ich mit meinem Vater erleben und teilen durfte, eingeholt haben. Diese Erfahrung beim Schreiben des Buches hat mir meinen Vater wieder zurückgebracht.

«Die Zeit heilt alle Wunden», ja?

Nein, leider nicht. Aber die Zeit macht’s besser. Und die Zeit verändert die Dinge und sie ändert, wie man die Dinge sieht. Diese Wunde wird nie heilen können, weil sie zu meinem Leben gehört. Es wird nie eine Zeit geben, in der der Tod meines Vaters oder meines Bruders nicht schmerzt. Das erscheint mir auch nicht richtig. Aber die Trauer, die ich jetzt habe ist eine ganz andere, als am Anfang. Und auch mein Leben ist jetzt wieder schön und glücklich. Die Zeit tut in dem Sinne schon was für einen, aber sie heilt auf keinen Fall alle Wunden.

Über 50 Veranstaltungen der Aktionstage «Wie geht’s dir?» auf graubünden-bewegt.ch und bei Facebook.

 

(Titelbild: Hans Wetzelsdorfer/ GRHeute)