Als in Graubünden noch revoltiert wurde

Als in Graubünden noch revoltiert wurde

Der Begriff «Revolution» wurde seit der französischen Variante von 1789 überstrapaziert. Auf inflationäre Weise wurde jede subversive Aktivität als Revolution bezeichnet, jedwede aufrührerische Gruppierung wurde zur revolutionären Freiheitsfront umbenannt so dass die wahre Bedeutung des Begriffs heute zu oft verkannt wird. Revolution bezeichnet im Gegensatz zur biologischen wie politischen Evolution keine vorwärtsgerichtete Entwicklung, sondern im Gegenteil, die Wiederherstellung eines früheren, legitimen, aber verloren gegangenen Zustandes. In diesem Sinne erscheint die häufige Nutzung des Wortes im linksextremen Milieu überraschend, gibt es jeder Revolution ja beinahe schon einen konservativen Charakter.

Linke Revolutionäre aller Länder berufen sich bei ihrer angestrebten «Wiederherstellung» auf die angeblich kommunistische Form einer mysteriösen Urgesellschaft, welche freilich nur in den Köpfen von Marx und Entourage existierte. Das folgende Beispiel einer (zumindest versuchten) Bündner Revolution hingegen befindet sich weit näher an der tatsächlichen Bedeutung des Wortes.

Im Zuge des Zweiten Koalitionskrieges (1798-1802), der erste der napoleonischen Kriege, geriet Graubünden einmal mehr in den Sog europäischer Grossmachtpolitik. Die französische Armée helvétique marschierte in das noch unabhängige Bündnerland ein, um die strategisch wichtige Region gegen die Österreicher zu sichern. Kaum in Chur angelangt, setzte der französische General eine provisorische Marionettenregierung ein, welche kurz darauf den Beitritt Graubündens (oder damals noch Kanton Rätien) zur Helvetischen Republik veranlasste. Die Untertanenlande, also das Veltlin, Chiavenna und Bormio, welche seit 1512 mehr oder weniger durchgehend in bündnerischem Besitz waren, fielen an die ebenfalls von den Franzosen etablierte Cisalpinische Republik. Nach dem frühen Ende der République helvétique 1803 folgten bis 1813 zehn Jahre der sogenannten Mediation, während derer Frankreich das Gebiet der Schweiz de facto zu einem Protektorat machte.

Als Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig von den Russen, Österreichern, Preussen und Schweden geschlagen wurde, ging das Rennen um die Wiederherstellung der «alten Ordnung» in ganz Europa los. Die Schweizer setzten die Mediationsakte ab und schafften einen neuen Bundesverein, dem sich allein der Kanton Graubünden nicht wieder anschloss. Die Bündner Eliten, zum grössten Teil Verfechter der vorrevolutionären Zustände, hofften die Drei Bünde wieder als unabhängiges Staatswesen im Besitz der früheren Untertanenlande etablieren zu können. Die aus der Schweiz rückkehrenden Bündner Truppen sollten den Grossen Rat dazu zwingen, die alte Verfassung wieder in Kraft zu setzen. Aufgrund der Weigerung der meisten Offiziere, nur ein Batallionskommandant Casanova konnte begeistert werden, wurde der Plan eines Militärputsches wieder verworfen.

Stattdessen reagierten die Bündner auf die klassische Art mit einem «Fähnlilupf». Aus dem Oberland und der Herrschaft zogen 600-700 Bauern, mit Stöcken und Äxten bewaffnet, durch das Churer Obertor bis zum Sitzungssaal des Rates im Rathaus, «um sich nach dem Gang der Verhandlungen zu erkundigen». Belagert von diesem aufständischen Haufen verabschiedete der Grosse Rat nun Beschlüsse, welche vom Führer der Meute wörtlich diktiert wurden, einige dieser Diktate gelangten nicht einmal mehr zur Abstimmung, sondern wurden schlicht gutgeheissen. Nach getaner Arbeit feierte die Meute unter lautem Gejohle die Wiederherstellung des Freistaates, riss das Kantonswappen vom Regierungsgebäude und zertrümmerte es.

Die Siegermächte der Napoleonischen Kriege billigten das Bündner Begehren entgegen der Behauptungen der Aufrührer nicht. Graubünden habe sich mit der Eidgenossenschaft zu vereinen und eine neue Verfassung aufzusetzen. Auch die so begehrten Untertanenlande wurden nicht wieder zurückerstattet und gingen auf dem Wiener Kongress 1815 endgültig verloren. Obwohl die «Bündner Revolution» das althergebrachte Politikverständnis der Bündner veranschaulicht (à la «wenn uns etwas nicht passt, organisieren wir eben einen bewaffneten Fähnlilupf»), war ihre politische Wirksamkeit kaum erwähnenswert. Obwohl die Revolution die alte Ordnung nur für einen Moment lang zurückbrachte, war sie doch eine Revolution im wahrsten Sinn des Wortes.

geschichte_graubuenden

 

(Bilder: Völkerschlacht bei Leipzig (Gemälde von Wladimir Moschkow), 1815. Karte: Der Freistaat der Drei Bünde bis 1797 – Marco Zanoli/Wikipedia.) 

author

Franco Membrini

Kolumnist
Hat an der University of Edinburgh seinen «Master of Science in History» absolviert. Zuvor studierte der Churer Geschichte, Betriebsökonomie und Staatsrecht an den Universitäten Bern und Bologna.