Der Furor Raeticus

Der Furor Raeticus

Die Bündner gehörten während der Frühen Neuzeit zu den begehrtesten Söldnern Europas. Beinahe jede Grossmacht schätzte die Tapferkeit und erstaunlichen körperlichen Fähigkeiten der Bergbewohner. Manchmal versagt aber auch dem tapfersten Bündner der Mut.

Eigentlich kommt der Bündner „Sturgrind“ nicht allzu gut klar mit Autoritäten, wie beispielsweise die Bündner Tradition der Fähnlilupfe als politischem Instrument zeigt. Und obwohl die Bündner ihre Mühe haben mit Autorität und Disziplin gehörten sie im frühneuzeitlichen Europa zu den begehrtesten Soldtruppen des Kontinents. Als „bellicosi et ostinati assai“, als kriegerisch und hartnäckig zugleich beschrieb sie ein venezianischer Zeitgenosse. Die Söldner aus den Bergen versetzten die europäischen Mächte vor allem durch ihre hervorragende Ausnützung des Geländes und ihre körperliche Tüchtigkeit, etwa beim Marschieren, immer wieder in Erstaunen. Einige Bündner Historiker identifizierten darüber hinaus aber auch die kriegerische Wildheit der Bündner, oder ihre Sucht nach berserkerhaftem Dreinschlagen als Gründe für ihren militärischen Erfolg. Diese innere Wildheit bezeichnete der Historiker Christian Padrutt als „Furor Raeticus“, die rätische Raserei. Auf den unzähligen Schlachten, Feld- und Raubzügen, den Fehden und Grenzstreitigkeiten, welche die Bündner austrugen (oder auch vom Zaun brachen) fehlte den Bündner Söldnern gemäss Padrutt jegliche Furcht und Überlegung. Einmal entfesselt, hält der Furor Raeticus vor keinem Feind an, im Gegenteil, die Bündner drängten zum Kampf, brannten darauf den Feind zu fassen. „Si grifend die Schwaben frölich an, mit mengem unverzagten man“, heisst es in einer deutschen Chronik.

Seit dem 13. Jahrhundert war der Furor Raeticus auf den wichtigsten Schlachtfeldern Europas vertreten. Das Soldwesen nahm in Graubünden solch hemmungslose Ausmasse an, dass tausende angeworbene und nicht angeworbene Krieger das Land verliessen und regelrechte wirtschaftliche Engpässe verursachten. Paradoxerweise verursachte das Soldwesen (oder Reisläuferei) nicht nur wirtschaftliche Probleme, sondern wurde vor allem durch solche begünstigt. Vielen Bündner Männern, die in den bescheidenen wirtschaftlichen Möglichkeiten des Freistaates kein Auskommen fanden blieb nichts anderes übrig als ihre kriegerischen Fähigkeiten einem fremden Staat anzubieten. Auch viele Bauern, welche zwar über ein Einkommen verfügten, aber dennoch auf einen Nebenverdienst angewiesen waren, zogen in den freien Monaten in den Krieg. Die Arbeitgeber der Bündner reichten dabei vom französischen König, über die Republik Venedig bis hin zur schwedischen Krone.

Während der Frühen Neuzeit schloss der Freistaat diverse Bündnisse mit den europäischen Staaten ab, die immer auch eine sogenannte Militärkapitulation enthielten. Diese Kapitulation regelte die Rechte und Pflichten der Bündner Söldner im Dienst des jeweiligen Staates. In diesen Verträgen wurde beispielsweise die Höhe der Pensionen und Soldzahlungen oder die Anzahl der Söldner festgelegt. Eine Besonderheit der Bündner war allerdings, dass sie sich immer vertraglich absicherten, keinesfalls auf oder über dem Meer kämpfen zu müssen. Schliesslich kam man ja aus den Bergen und war das Wasser nur in Form der hiesigen Flüsse und Seen gewöhnt. Gegen Ende des Soldwesens, Mitte des 19. Jahrhunderts, musste der Furor Raeticus schliesslich aber doch noch vor dem gefürchteten Meer kapitulieren. Als sich die Sizilianer gegen ihre bourbonischen Herren in Neapel erhoben, befahl der König den Bündnern nach Messina zu fahren und den Aufstand niederzuschlagen. Bei der Überfahrt wurden die alpinen Krieger aber derart Seekrank, dass sie zwei volle Tage kampfunfähig waren. Die tapferen Bündner haben ihren Gegnern auf vielen Schlachtfeldern gezeigt was der Furor Raeticus bedeutet; bei der kurzen Überfahrt von Neapel nach Messina verging es den furchtlosen Söldnern aber gründlich.

 

(Bild: Wikipedia)

author

Franco Membrini

Kolumnist
Hat an der University of Edinburgh seinen «Master of Science in History» absolviert. Zuvor studierte der Churer Geschichte, Betriebsökonomie und Staatsrecht an den Universitäten Bern und Bologna.