Bluemoon’s Blog: Archivperlen – Das Ende der Sehnsucht Teil 1/13 (2006)

Bluemoon’s Blog: Archivperlen – Das Ende der Sehnsucht Teil 1/13 (2006)

Kürzlich durchforstete ich mein Archiv und fand darin unverwendete Perlen. Nun werde ich in unregelmässigen Abständen hier auf GR Heute Geschichten, Gedichte und anderes Chrüsimüsi publizieren. Mit 18 schrieb ich ein Buch, druckte es als ich 20 wurde 50 Mal, und wenig später verschwand es dann wieder von der Bildfläche. Nun möchte ich es euch hier nicht vorenthalten. Diese Perle hier stammt aus dem Jahre 2006. Viel Spass damit!

 

Naeco erwachte in seinem himmlischen Doppelbett; ganz sanft und ruhig, nicht sofort und hastig. Es war ein verregneter Augusttag, welcher sich mehr nach November anfühlte und zu allem noch mit Nebel bedeckt war.
Langsam und behutsam öffnete er das Fenster seines Zimmers, welches gleich links seiner zur Seite geschobenen Decke mit der Zimmerwand eins war. Verschlafen und mit einem Touch Melancholie betrachtete er das Angesicht des Herbstes, welches sich nun seinen Augen zur Schau stellte. Der Nebel hatte sein graues Gewand über die ganze Umgebung gelegt; von der alten Kapelle ganz hinten am einen Ende des Dorfes, bis zum See, welcher immer trauriger zu wirken schien, am anderen Ende des Dorfes.
Die frische Luft, von den Tränen des Himmels getränkt, durchdrang langsam Naecos Lungen und er spürte, wie durch sie langsam wieder Leben in ihn und klare, wache Gedanken sich durch seinen Kopf schlichen. Langsam begannen der Regen und der Nebel ihre Vormachtsstellung gegenüber der Sonne ins Unbesiegbare weiter auszubauen. Alle nervten sich wegen diesen zwei untrennbaren Freunden und hatten an vielen Orten Probleme, deren Erzeugnis Wasser in Schranken zu halten. Die Wasserschäden vor dem nächsten Gewitter wieder zu beheben, war auch keine leichte Sache.
Doch diese Probleme konnten Naeco nichts anhaben, denn er wohnte an einem relativ hoch gelegenen Ort und das Wasser floss daher so oder so immer hinunter zu den Anderen.
Es regnete nun schon zwölf Tage und zehn Nächte lang, mal weniger, mal wieder wie aus Kübeln. Diese Situation war drastisch, doch zum guten Glück noch nicht so schlimm, dass irgendwo riesige Schäden oder gar Menschen unter die Räder kamen. So circa zwei bis drei Mal wöchentlich kam es vor, dass Keller und Gänge überflutet wurden.
Zum Teil gingen die zwei Flüsse in der Umgebung über die Ufer, bis dann die menschlichen Grenzen denen des Flusses sich ergeben mussten und die Flüsse mehr Platz zur Beanspruchung bekamen. Als Retter dieser Lage traten die trockenen Wiesen in Erscheinung, welche den ganzen Sommer lang nur etwa zwei oder drei Mal richtig vom Himmel genährt wurden. Sie schluckten fleissig und suchten traurig und leicht wehmütig nach der gelben Sommerliebe, welche sie den ganzen Sommer lang beschienen hatte.

Es war recht kalt geworden. Naeco schloss das Fenster, da es ihn zu frieren begann und er kein Interesse an einer lästigen Erkältung hatte. Die würde ihm im Moment sehr unpassend daher kommen, da er nur noch zwei Wochen zu arbeiten hatte und dann für ihn endlich das richtige Leben beginnen werde.
Auf leisen Sohlen schlich er zu seinem Radiowecker, nachdem er seine Füsse wie von Wolken auf den Teppich seines Zimmerbodens herunter sinken liess. Er versuchte so leise wie möglich zu sein, denn seine Mutter schlief im Zimmer neben seinem und hatte in seinen Augen die Stunde Schlaf länger sicher mehr als verdient. Sie war diejenige, die immer bis spät in die Nacht arbeitete und ihn ohne irgendwelche Vorwände und voller Hingabe liebte, genau wie er sie auch.
Also stellte er den Radiowecker neu und legte sich nochmals hin. Seines Erachtens nach war diese Viertelstunde mehr jeden Tag ein riesiger Bonus und zudem der wertvollste Schlaf, den er sich nahm.
Eigentlich konnte man diesen Kurzschlaf ganz und gar nicht als Schlaf betiteln, doch Naeco gefiel dieser Halbschlaf sehr. Während dieser Viertelstunde halbwach und halbschlafend kamen ihm stets gute Ideen, welche er während des Tages niemals so komplex zusammen spinnen konnte. Alles erschien ihm logisch, wenn er eine Idee ausgetüftelt hatte und sie danach für sich alleine den ganzen Tag lang reflektieren und geniessen konnte.
Es war als die ultimative Verknüpfung zwischen Traum-, respektive Phantasiewelt und der Realität oder als leichten Zugang zu seinem inneren Kind, welches immer in ihm schlummerte und auf eine solche Erweckung nur so wartete, zu verstehen. Naeco sprach nie mit jemandem über diese täglichen 15 Minuten, jedoch bereitete er sich moralisch darauf vor, dass ihn urplötzlich jemand darauf ansprechen könnte. So hatte er immer perfekt ausformulierte Antworten in seinem Kopf zum Abrufen bereit liegend. Auf die eine Seite fand er dies selbst lächerlich, denn wer würde ihn schon einmal darauf ansprechen und vor allem seine Wunschfragen stellen? Er hatte ja noch nie jemandem von seinen magischen Momenten am Morgen erzählt. Aber auf die andere Seite konnte er die Romantik und das zauberhafte der ganzen Sache nicht einfach so zerstören.

Das grösste Leid der Menschheit war es schon immer ihre Träume zu verlieren. Viele Erwachsene dachten, dass Träume ein Teil der längst vergessenen Kindheit seien und heute keinen rentablen Wert mehr mit sich tragen würden. Von dem her konnte man sie ja gut und gerne einfach ignorieren und verdrängen ohne sich dabei grosse Gedanken machen zu müssen. Naeco hoffte für diese Menschen und wünschte es ihnen von tiefstem Herzen, dass sie irgendwann auch auf den richtigen Weg zurückfinden würden. Er sagte oft leise vor sich hin:
„ Sollen ihre Träume lernen zu fliegen und sie zurück zur Wahrheit führen.“
Der Radio rasselte los, wie immer mit dem schlechtesten Lied des ganzen Tages, was Naeco dann auch dazu bewog, so schnell wie möglich auf die Beine zu kommen und dem schrecklichen Treiben irgendwelcher Radioamateure ein Ende zu bereiten. Doch heute konnte ihn dies nicht in eine Depression zupfen, obwohl den meisten Leuten in seiner Umgebung das Wetter mächtig aufs Gemüt drückte und ihnen vorläufig kein Lächeln auf deren Gesichter zeichnen konnte. Nein, denn heute begann nicht nur der Countdown von 14 Tagen in Richtung neues Leben; Naeco hatte heute eine Idee, welche vor Genialität nur so strotzte und deren Erfüllung Naecos höchstes Ziel und allererste Priorität war. Es war nicht eine dieser Ideen, welche mehr utopisch als realistisch war. Es kam ab und zu natürlich auch vor, dass Naeco Ideen von Anfang an gleich wieder über Bord werfen musste. Da sie zu phantasievoll waren und im „echten“ Leben schlicht und einfach eine unerfüllte Vision blieb. Solche Ideen waren schnell vergessen, was zu einem grossen Teil auch daran lag, dass Naecos Kopf ständig weitere neue Ideen erarbeitete, welche dann gleich die Überleitung von den schlechten übernahmen.
Doch diese Idee war definitiv anders. Sie gab ihm richtig viel und intensiv zu denken. Auch in seinem morgendlichen nüchternen Betrunkenheitszustand drehte sich alles um diese eine Idee. Doch nie wurde es irgendwie langweilig. Alles wurde einfach immer perfekter, bis ins letzte Detail hinaus geplant. Doch am heutigen Morgen wusste Naeco von diesem in Zukunft immer an seiner Seite weilendem Begleiter noch nichts und ging wie schon viele Tage zuvor einfach nur arbeiten.

Eigentlich hasste er diesen Job und nahm die vielen Mühen nur auf sich, der Freizeit Willen wegen. Von ihr hatte er nämlich mehr als genug. So konnte er stets genug Zeit für sich einplanen. In dieser Zeit genoss er meist die Natur, wo er Inspiration und Zufriedenheit fand. Leider blieb ihm diese Freude in letzter Zeit ein wenig verwehrt, des schlechten Wetters wegen. Doch Naeco brauchte sich nicht zu beklagen, denn er hatte einen der schönsten Sommer seiner bisherigen Erdenexistenz zu geniessen gewusst. Von diesem Sommer, der Kraft, welche die Sonne ihm schenkte und die Freude der Natur, welche ihn angesteckt hatte, all diese schönen Dinge gaben ihm so viel von dem er noch sehr lange zu zerren gedachte.

Nur noch zwei Wochen und dann konnte er sich endlich wieder frei seinen eigenen Ideologien widmen und nicht den Ideologien seines Vorgesetzten, welchen er so oder so nie so richtig mochte. Bald war er sein eigener Boss und brauchte auf niemanden mehr zu hören, als auf sein Herz und seine Seele. Dies war nun seine allergrösste Motivation jeden Tag aufzustehen und arbeiten zu gehen. Schliesslich hatte er es fünf Jahre lang gepackt, alles Schlimme an dieser Arbeit zu schlucken und alles so positiv zu betrachten, dass das Schlechte wie ein Wort im Wind verflog. Ausserdem war bald sein 25. Geburtstag, genauer gesagt, genau an dem Tag, an dem er zum letzten Mal für sehr lange Zeit zu arbeiten gedachte. Er hatte seit der Lehre immer voll durch gearbeitet und sich nie eine Pause gegönnt. Doch nun war bald genug Geld da, sich den schöneren Dingen des Lebens zu widmen.
Die zwei Wochen verflogen blitzschnell. Naeco glaubte es fast nicht, als alles ganz plötzlich dann zu Ende war. Er würde die Kollegen sicher recht vermissen. Ausserdem bekam er von seinem Chef noch ein Abschiedsgeschenk, welches er aber extra nicht vor ihm öffnen wollte, um ihm für sein ungemütliches Verhalten nicht etwa noch eine Freude zu bereiten. Er sah das Geschenk eher als schleimiger Wiedergutmachungsversuch eines verlorenen, armen, reichen Menschen.

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Chris Bluemoon

Redaktor Kultur
Hauptberuflich Radio-Journalist mit viel Leidenschaft für die Musik, die Poesie und das ganz grosse Chaos.