Happy Birthday, #OASG!

Happy Birthday, #OASG!

Das Openair St. Gallen ist quasi die Mutter aller Openairs. Und sie wird dieses Jahr 40 Jahre alt! Die folgende Hommage stammt aus dem Jahr 2012 und wurde zuerst auf einem privaten Blog veröffentlicht. Ausser für die aktuellen Bands hat sie aber auch heute noch Gültigkeit.

Am Bahnhof meiner Kindheit verwandle ich mich augenblicklich in das pubertäre Gör, das das Städtchen mit 18 verlassen hat. Die geschulterten Freitagtaschen, Zeichen der ewigen Jugend und seit über 20 Jahren an meiner Seite, geben diesem Umstand Farbe. Ein Umstand, der sich die nächsten Tage nicht ändern wird. Die Diskrepanz ist offensichtlich: Im normalen Leben bin ich für Kinder, Küche, Kamikaze zuständig. In der Stadt meiner Kindheit bin ich das Kind meiner Eltern. Das pubertäre Gör, das das Städtchen mit 18 Jahren verlassen hat.

«Kind», sagt meine Mutter, «zieh dir eine lange Hose an. Zieh Wanderschuhe an!» Ich klebe am ganzen Körper, aber die Vernunft sagt: «Deine Mutter hat recht. Man könnte in eine Spritze stehen. Man könnte von anderen Wanderschuhen zertreten werden. Es könnten ganz viele Dinge passieren, die in Wanderschuhen garantiert nicht passieren.» So ziehe ich die Wanderschuhe an, die lange Hose, und noch bevor ich das Sittertobel erreiche, bin ich eine lebende Schweissbombe. Am Billenberg lechzen meine Füsse nach Freiheit, in der Genfer Ecke muss ich mich bücken und die Schuhe lösen, weil sich ein Stein bei der Ferse breit gemacht hat. Meine Hände sind so geschwollen, dass ich die Wanderschuhe kaum mehr binden kann.

Aber ich bin da. Zum ersten Mal nach sieben Jahren Unterbruch. An dem Ort meiner Spätpubertät, dem Ort, der zur Ostschweizer Spätjugend gehört wie das Kinderfest zur Schuljugend. Es gibt in diesen Breitengraden nur einen Messgrad: Vorher und Nachher. Das erste Mal alleine ins Sittertobel – das ist wie ein Ritterschlag, die Vorstufe zum Erwachsenenleben. (Man bedenke: Damals, mit 17, gab es noch keine Handys.) Man ist – oder war, damals – drei Tage ausser Kontrolle der Eltern, es sei denn, man hatte solche wie ich, die sich das Spektakel auch nicht entgehen liessen. Man wurde für gross genug befunden, zwischen Drögelern, Besoffenen und anderen Spinnern seinen Weg zu gehen und heil nach Hause zu kommen. So war das, damals.

Damals spielten Mumpitz den Clown, Herbert Grönemeyer zoffte sich auf der Bühne mit der Festivalleitung, Michael Hutchence kletterte eine Woche vor seinem Selbstmord das Gerüst hoch und ich fand die Red Hot Chili Peppers cool, weil alle anderen sie auch cool fanden. Ich sah Kuno Lauener in der vordersten Reihe, ich war dabei, als Göla mit Eiern beworfen wurde und konnte wochenlang nix anderes singen als «I can see clearly now the Rain has gone». Ich verliebte mich unsterblich ins Pfannestil Chammer Sexdeet – etcettera, etcettera. Es gäbe hunderte kleiner und grosser Geschichten von damals. Ich arbeitete hinter und vor der Bühne, sah kleine und grosse Stars und fand manche ganz nett und andere extrem doof. So war das, damals.

Züri West und Kuno Lauener bringen mir meine Jugend zurück; Kunos Hemd ist schon vor Beginn der Aufführung durchnässt und macht durch die Kamera der Leinwandübertragung den Blick auf eben kein Sixpack frei. Er singt viele Lieder von früher, das verschenkte Herz, den Alpenflug und sonst noch ein paar. Nur 7:7 wieder einmal nicht, und irgendwie hätte Arturo Bandini auch noch dazu gepasst. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau. Ich stehe oben, schaue zu wie sich das Feld im Takt bewegt, wie sich die Menge spaltet in Mitsingenkönnen und Nichtmitsingenkönnen und trinke einen Schluck Wasser. Meine Mutter meldet sich per SMS: «Ist es cool?» Ja, schreibe ich zurück, «es ist cool. Wahnsinnig cool.»

Auf dem Gang zur Toilette verliere ich meine Freundin, die ich zwischenzeitlich angetroffen habe, finde dafür ungaufgefordert meinen Bruder, der mir zwei Schlücke seines Biers schenkt und nur wenig später treffe ich ebenso zufällig eine Freundin mit deren Freund und höre mit ihnen zusammen Florence and the Machine. Ich gehe nach Hause, als es noch hell ist, muss fast nicht für den Bus anstehen und als ich nass, verschwitzt und völlig am Ende zu Hause ankomme, sage ich meiner Mutter als erstes: «Morgen gehe ich in Sandalen!» Da ist es wieder, das pubertäre Gör.

Am zweiten Tag muss ich erst eine Runde im Weiher schwimmen. Früher streckten wir die Füsse in die Sitter und hofften, den Platz zuoberst gefunden zu haben und so den Ausscheidungen anderer entgehen zu können. Tempi passati – heute sitzt jeder überall in die Sitter, und deren Wasser ladet zu vielem, aber nicht zum Bade. Nicht mal für die Füsse. Zurück auf dem Gelände sitze ich eine Stunde lang alleine auf einer Anhöhe und schaue den Leuten zu. Ich esse Indisch vor den Toten Hosen und vergesse, das ich es nicht vertrage. Mir wird schlecht, neben mir wird es immer lauter und unkontrollierter und so trete ich den Rückzug an, bevor die Hosen quicklebendig auf die Bühne treten. «Was?», kreischt meine Mutter, als ich sie, noch wach, klar, vor dem Radio antreffe, wo sie, klar, das Hosen-Konzert aus dem Sittertobel hört, «du bist schon da?» Das pubertäre Gör in mir hätte viele Antworten parat, aber ich bin zu müde und gehe ins Bett.

Am dritten Tag sind die Temperaturen um mindestens zehn Grad gesunken. Ich stehe auf und weiss: Das wird mein Tag. Die dunklen Wolken am Himmel tun dem Enthusiasmus in mir keinen Abbruch; ich hab genug Proviant, es wird gute Musik geben – Stress! – und ich habe ein paar Dates. Der Bus ins Sittertobel ist rappelvoll; ich werde hinein gestossen, wie wenn es kein gestern und vorgestern gegeben hätte. «Wenigstens», sage ich dem Mann neben mir, mit dem ich leider auf Tuchfühlung gehen muss, «ist die Umfallgefahr so ziemlich gering.» Der Bildschirm, efängs omnipräsent in Bussen, sagt, dass man auf Essen und Trinken verzichten soll. Da kann man nur lachen: Man stelle sich vor, Pommes zu essen, derweil man mit einem Arm einen Mann umschlingen muss und von der anderen Seite den Mundgeruch einer jungen Frau ins Gesicht geblasen bekommt.

Unten im Sittertobel passiere ich zum letzten Mal das überdimensionale Welcome-Schild, laufe an zurück gebliebenen Alkoholika in Büchsen und Flaschen vorbei. Die Kontrollen sind lasch, ich hätte einiges Verbotenes hereinschmuggeln können. Aber das wäre kindisch, und ich hab mit der Rückkehr meiner inneren Pubertät schon genug Kind am Hals.

Es beginnt tatsächlich zu regnen, ich bin in kurzen Hosen und wiederum den Sandalen da, es ist kein Problem, es gibt immer noch viele Flipflopper auf dem Platz. Man sieht wieder mehr grün, viele Zelte sind schon abgebaut oder liegen tot im Gras. Überhaupt, was alles zurück gelassen wird: Ich treffe marinierte nackte Pouletschenkel an, Würste in Plastik, Getränke, ungebrauchte Kondome – und ich will nicht wissen, wie gross die Summe ist, die nutzlos im Gras vergammelt. Die Wohlstandsgesellschaft manifestiert sich im zurück gelassenen Abfall eines Festivals. Aber ich bin nicht zur Sozialkritik gekommen; ich gehe zu meiner Freundin ins Zelt, grille, habe Spass, sehe The Kooks auf dem Bildschirm, weil die Zelte davor abgebaut sind.

Als ich kurz vor Ende des Paolo-Nutini-Konzerts beschliesse, den Heimweg anzutreten, treffe ich im Schnelldurchlauf meine halbe Spätpubertät an. Das ist schön, das ist schön, das ist Heartwarming und ich gehe nach Hause, zurück zu Kinder, Küche, Kamikaze und weiss: Ich werde wiederkommen. Irgendwann.

PS: Dieses Jahr freue ich mich wahnsinnig auf das Konzert von Radiohead. Aber da sie erst um 23.30 Uhr am Samstagabend spielen, weiss ich nicht, ob ich dann nicht schon im Bett liege…. 

 

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Rachel Van der Elst

Redaktionsleiterin/Region
Rachel Van der Elst mag Buchstaben: analog, virtuell oder überall, wo Menschen sind. In einem früheren Leben arbeitete sie unter anderm bei der AP, beim Blick, bei 20Minuten, beim Tages-Anzeiger und bei der Südostschweiz. In ihrer Handtasche immer dabei: Jasskarten.