tourismus.total: Ein Meer vom Gleichen vs. «Rhein im Tunnel»

tourismus.total: Ein Meer vom Gleichen vs. «Rhein im Tunnel»

Ernst Bromeis
12.07.2016

Bei der NEAT Eröffnung überschlugen sich die Stimmen. Grenzenlose Euphorie im Norden wie im Süden und im Tunnel selbst. Als ich dem Gespräch auf Radio SRF1 mit den Altbundesräten und ehemaligen Verkehrsministern Adolf Ogi und Moritz Leuenberger lauschte, überschlugen sich die Emotionen der Magistraten ob der einheimischen Ingenieurskunst und der völkerverbindenden Tat.

Die Festansprachen, angefangen bei Bundesrätin Doris Leuthard, waren eine Hymne auf den Fortschritt und die neue Konnektivität. Ich in meinem Tunnelblick gefangen dachte: immer mehr vom Gleichen.

Die Worte, die Symbolik, die Metaphern sind wohl seit jeher die gleichen. Sei es bei der Eröffnung des Gotthard-Eisenbahn-Tunnels, bei den Festlichkeiten des Gotthard-Strassen-Tunnels und jetzt bei den Neat-Festivitäten. Immer mehr Tunnels. Immer schneller, länger, tiefer. Es will nicht in meinen Kopf, dass es nun für die Lebensqualität und für den Wirtschaftsstandort Tessin von Vorteil sein soll, dass man nun optional morgens von Bellinzona nach Zürich zur Arbeit pendeln darf.

Immer mehr vom Gleichen auch in der Engiadina Bassa. Auf einer Rad-Trainingsfahrt zu meinen Eltern nach Ardez glaubte ich die Strassen nicht mehr zu kennen. Zwischen Lavin, Giarsun, Ardez und Scuol lässt sich immer mehr im Tempomat das Engadin «erfahren». Bei Giarsun entsteht ein Kreisel für die Abzweigung ins Bergdorf nach Guarda. Ich mag es «Uorsin» und Guarda ja gönnen, wenn sie in Zukunft von Gästen überrollt werden. Doch ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass die gut ausgebauten Strassen als Transitstrassen befahren werden und dass kaum ein Rappen Wertschöpfung mehr in der Engiadina Bassa hängen bleiben wird. Schneller, weiter, breiter – und tschüss.

In der Ruinaulta zwischen Versam und Trin soll auch ein Tunnel entstehen. Die Ruinaulta soll nicht nur exklusiv für Schwimmer und andere Wasserratten zugänglich sein, sondern in Zukunft sollen auch Wanderer den Rhein aus nächster Nähe geniessen dürfen. Kritische Stimmen haben Angst um den Rhein. Sie monieren, dass das Wandern durch einen Tunnel ein Blödsinn sei.

Aber: dieser Tunnel muss nicht einfach ein Tunnel mehr sein. Er ermöglicht mit ein wenig Fantasie die 400 Meter unter der Erde zu «bespielen». So, dass die Wanderung nebst dem Naturerlebnis auch zum künstlerischen- und bildnerischen Erlebnis wird. Vielleicht ist es keine touristische Alternative zum senkrechten Tunnel der Porta Alpina, doch eine grosse Möglichkeit, dem Rhein mit Hintergrundwissen mehr Tiefe zu geben nach dem Motto: «R(h)ein in den Tunnel!» Wenn auch noch Wertschöpfung für die kleinen und feinen Betriebe um die Station Versam und Trin generiert wird, ist dieser neue Tunnel definitiv nicht in der Kategorie «immer mehr vom Gleichen» anzusiedeln! Ich hoffe, dass alle Involvierten diese Chance packen werden.

PS: Vom Meer habe ich nie genug. Da kann ich ohne weiteres m(e)ehr vom Gleichen ertragen. Ich wünsche einen schönen Sommer.

Ernst Bromeis-Camichel
Wasserbotschafter und Expeditionsschwimmer

(Quelle: http://www.srf.ch/news/regional/graubuenden/im-tunnel-durch-die-rheinschlucht-wandern)

Kommentar

Wie es früher so war – bei der Schulreise

Der Beitrag von Ernst Bromeis erinnert mich an meine Schulreisen. Damals, als man die Fenster in den Zügen noch richtig weit öffnen konnte: «FÄNSCHTER ZUA!», tönte es jeweils regelmässig durch die Abteile wenn es jemand wagte, im Tunnel sein Fenster auch nur einen Spalt weit offen zu lassen. Bei der Schulreise im reservierten Uralt-Wagen war es aber ganz anders: Im Tunnel blieb nicht eines, sondern gleich alle Fenster offen.

Kaum war es dunkel geworden, strömte die kalte, feuchte Tunnelluft um unsere Gesichter und wer einen Fensterplatz hatte, streckte seinen Kopf in den Fahrtwind. Es roch nach Eisenbahn, Wasser spritzte von den Tunnelwänden und die Bremsen und Räder des Zugs kreischten so ohrenbetäubend laut, dass niemand das Kommando «FÄNSCHTER ZUA!» des Lehrers zu hören vermochte.

Seit meiner Schulzeit ist viel passiert. Auf der nagelneuen Umfahrung von Küblis, im Gotthard-Basistunnel oder der Zürcher S-Bahn: Wir bewegen uns immer mehr unter dem Boden. Statt die Schönheiten unseres Kantons zu sehen, starren unsere Gäste dann schwarze Fenster an und versuchen angestrengt, einen Fetzen Licht zu erhaschen. Ganz anders wir Einheimischen: die Einfahrt in den Tunnel bemerken wir nur noch dann, wenn das WLAN bockt oder ein Telefonat unterbrochen wird. Ernst Bromeis hat recht: Wir sollten unsere Tunnel-Zeit besser nutzen.

Die klassische Idee des Tourismusvermarkters wäre es nun wohl, automatisch das Licht auszuschalten und die Fenster als Monitore für Filme, Infografiken und Werbung für unser schönes Land zu nutzen. Noch etwas Kuhglockengeläut und Vogelgezwitscher dazu und nicht nur unsere asiatischen Gäste wären vollends entzückt. Wir könnten aber einen Schritt weiter gehen: Alle Fenster öffnen, die feuchte Tunnelluft hereinlassen und im ohrenbetäubenden Lärm unser Gegenüber anstarren. Dann laut herauslachen und unseren Gästen nach dem Ende des Tunnels erzählen, wie es früher so war – bei der Schulreise.

Wetten, dass unsere Gäste nicht minder entzückt wären, wenn wildfremde Einheimische plötzlich mit ihnen reden und mit leuchtenden Augen aus ihrer Jugend erzählen würden? Wetten, dass sie es zu Hause in Indien, Asien, Amerika oder Deutschland jedem erzählen und dadurch hunderttausende neue Gäste nach Graubünden bringen würden? Schade nur, dass man die Fenster unserer Züge nicht mehr öffnen kann.

Reto Branschi
CEO Destination Davos Klosters

Die Tourismus-total-Expertenrunde von GRHeute berichtet und kommentiert einmal wöchentlich über aktuelle Tourismusthemen für Graubünden. Unverblümt und direkt von der Front. 

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Ernst Bromeis

Kolumnist Tourismus
Wasserbotschafter und Expeditionsschwimmer