Staldereien: Mercedes Sousa und die Altkleiderdiebe

Staldereien: Mercedes Sousa und die Altkleiderdiebe

Bei Ravioli und russischem Salat aus dem heimischen Bunker lehne ich zurück, schlemme und lasse die Welt Welt sein. Da der sympathische Berset im TV zu Asozialität zum Wohle der Gemeinschaft auffordert, nutze ich die Zeit für mich selbst und betrachte mein Spiegelbild. Mann tut das viel zu selten! Im Hintergrund schmettert Mercedes Sousa Lieder durch die Zeit: «Todo cambia!». Da der gesamtgesellschaftliche Ausnahmezustand noch einige Zeit andauern dürfte, geniesse ich das Tête-à-Tête mit meiner selbst. Kurz. Auf die Dauer schmerzt den Betrachter das eigene Bild. Gar flüchtige Blicke enthüllen gröbere Mängel. Zeitschäden. Fern jeglicher Garantie. Zwischen der abgefahren-langweiligen Milleniumsparty und der ernüchternden Gegenwart eingeschlichene Materialermüdung.

Es wird Zeit, was zu tun. Nur hatte ich mir am Ende meiner Volkschulzwangsmassnahme geschworen, nie wieder eine Turnhalle in Turnkleidung zu betreten. Das dienstägliche Fitness für Jedermann in der hölzigen Dorf-Volksporthalle muss daher ohne mich stattfinden. Alle vereinsmässig organisierten Bewegungsanlässe ebenfalls: Meine nicht diagnostizierte, aber hinter vorgehaltenen Armbeugen gern vermutete Störung im weiten autistischen Spektrum, lässt das nicht zu. Was bleibt? Extremsoloklettern im Rätikon (Silbergeier) oder Leibesübungen im Gym. Noch nicht lebensmüde, muss ich mein Ego wohl ins Fitnessstudio zerren.

Hebebänke, Laufbänder und Medzinbälle sind ja alte Bekannte! Die erste Begegung mit einem Body-Optimierungs-Etablissement habe ich in den jungen Zweitausenderjahren gemacht. Fitnessabos waren da angesagt. Bei zwanzig Kippen täglich und studentischem Grundnahrungsmittel nach Reinheitsgebot ja nicht gänzlich verkehrt. Für wenig Geld im Zürcher Seconhand Adi Daschlers Turnschuhe mit passenden Trainerhosen erstanden. Daheim fühlte sich der 70er-Jahre-Look fantastisch an. Kaum zum Schnuppertraining erschienen, verflog die Selbsttäuschung jäh! Kennen Sie das, wenn Sie merken, dass Sie ins Hier und Jetzt nicht recht reinpassen wollen?

Geschnuppert hatte ich an diesem Tag vor allem die Geilo-Haareschön-Crème des Fitnessinstruktors; den Duft in der Nase wirst du nie wieder los! Meine Kreuzchen im final vorliegenden, mit Verlaub ambitionierten Trainingsplan, hatten das Ende von Seite eins dann aber doch nie erreicht. Die selbstentschuldigten Absenzen nahmen zu. Die stylischen Hosen fanden nach wenigen Monaten der Selbsttäuschung den Weg nimmer mehr ans Tageslicht. Bis vor Kurzem. Jetzt vermute ich sie in den Händen geschäftiger Altkleiderdiebe.

Zwanzig Jahre (Kilos) später möchte ich es nochmal wissen. Die Sportnote 3 in der Stadtschuloberstufe, das Standsprungdesaster an der Aushebung im Hinterhof der Churer Kaserne (unter einem halben Meter im zweiten Versuch und damit rapportierte eidgenössische Tagesmindestleistung vom 1.7.1999), die allgemeine sportive Untätigkeit seit der jungen Adoleszenz – das will doch nichts heissen! Wohlan, der Sport, er findet mich in der Blüte meines Erwachsenendaseins!

Im Churer Wiesental werde ich in Sachen modebewusster Sportkleidung fündig: Die pinken Schuhe aus der Wühlkiste für nen schlappen Zehner leuchten sportlich. Es läuft sich wie von selbst, die Dämpfwirkung ist enorm. Eine Einkaufstrasse weiter finde ich erstmals eine Sporthose, wie für mich gemacht: «Für (Wieder-)EinsteigerInnen!», steht da auf dem Etikett. Genau das bin ich, ein Wiedereinsteiger. Einer der weiss, wie das Laufband läuft. Ein Ex-Sporti, der es nochmals wissen will. Ein Rückkehrer. Dafür gibt’s gar die passende Hose! Die Sportwelt kennt Kleidung für Menschen wie mich – sowas berührt meine Seele zart.

Nun denn, die Kleider liegen bereit. Wach der Geist, träge der Körper. Die nächsten gedämpften Schritte lassen auf sich warten. Zaghaft das Tun. «Y dale alegría a mi corazón» – schon wieder jault gewaltig die Sousa aus dem Hinterhalt. Mein Herz freute es schon, wenn nur nicht die Textilklauer mir die neuen Hosen noch vor dem ersten Training unterm Arsch wegziehn. Ich werde mich anmelden. Bald.

PS: Aeschi — echt jetzt?

(Bild: zVg, es zeigt als Symbolbild die Fitnessbox in Sils im Domleschg)

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.