Staldereien: Tagebuch einer Krise

Staldereien: Tagebuch einer Krise

Das stille Chur ist stiller denn je. Verstohlen huschen die Wenigen durch die Gassen. Andächtig steht er da, der Hof. Leere Biergärten. Gespenstisch vereinsamte Quartiere. Niemand schiesst dem alten Berg das Pulver in den Ranzen; man hat die Störenfriede mobilisiert. Stillste Tage in Chur, Meienberg bekäme die Krise! Fast kann man sich die Stadt an einem Sonntag nach dem Weltuntergang vorstellen; Element of Crime sechsachtelt im Hintergrund. In der Bahnhofstrasse galoppiert gegen Mittag eine Psychotherapeutin an mir vorbei und erzählt allerlei Schweigepflichtiges. Als ob es nicht mehr drauf an käme. Skurril die Szenen in der kleinen Stadt.

Schnell wieder nach Hause geflohen kennt das quarantänenhafte Dasein auch Vorteile: Geborgenheit, die freundlichen Gesten in der Nachbarschaft, ein Einkauf für Hedy, das Lächeln von ihr. Und endlich kann ich die sich türmenden Bücher auf dem Nachttisch auch mal lesen! Was ich habe ist Zeit, sehr viel Zeit. Das Virus, besser dessen Folgen, beherrschen den medialen und sozialen Alltag und lassen, mir nichts dir nichts, die «Hotspots» vor den erstarkten Grenzen Europas vergessen. Das muss den Stierengrindern im EU-Machtapparat gerade recht kommen. «Corona» verdrängt «Moria», das bekannteste der grässlichen Zwangslager für sogenannte Flüchtlinge in der Ägäis, aus unseren aufgeklärten Köpfen. Europa betontiert seine Denke in undruchlässige Grenzen. Jetzt viral legitimiert. Die humanitäre Krise vor unserer Türe wird täglich unvorstellbarer, betrifft uns aber weiter nicht.

Betroffenheit darf vielleicht als Ausgangspunkt für Jean Zieglers neues Buch vermutet werden. Betroffenheit und Wut. Und die unablässige Berufung auf die Menschenrechte und ihre eigentlich lange Geschichte. Auf 144 Seiten führt uns der alte Mann vital durch die Lager auf der Insel Lesbos und durch seine zutiefst von Humanität geprägten Begegnungen. Kurze Momente, grosse Geschichten. Die Unmenschlichkeit lässt sich kaum in Worte fassen, die Wut des alten Revolutionärs schon. Er raunzt und wettert, am liebsten gegen «die Betonköpfe der EU» und ihre Kommisionspräsidentin. Mag einem die Tonalität, die für Ziegler typische Ungezügelheit auf den Keks gehen: Er, der streitbare Kämpfer für die Menschenrechte war da und führt die geneigte Leserin, den geneigten Leser mit grossem Erzähltalent und wachem Geiste durch das Unvorstellbare.

Es zeigt sich gerade dieser Tage, dass wir Menschen in besonderen Situationen neben Abgründigem durchaus zu Mitgefühl und Sozialität imstande sind. Die kleinen Begegnungen und Gesten im aus der Routine geratenen Alltag, die studentischen Aktionen, die rasch keimenden sozialen Bewegungen im Lande: Wir alle sind im Angesicht der Krise zu erstaunlichem Tun in der Lage. Weshalb also folgen wir nicht dem Aufruf des alten Suppenverkäufers aus Genf? Jetzt und danach.

In der Bahnhofstrasse grillt einer noch Würste. Einer bestellt eine. Danach ists wieder still. Da bleibt man gern zuhause. Wie lange es wohl dauert, bis ich mich singend auf den Balkon getraue?

PS: Die zweiundzwanzig sauteuren Strommasten an der A13: Gibt es die auch in schön?

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.