Im Auftrag der Regierung hat das Departement Geschichte der Universität Basel in einer umfassenden Studie die Psychiatriegeschichte des Kantons Graubünden von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit aufgearbeitet. Die Bündner Psychiatrie war im 20. Jahrhundert eines von mehreren Zentren für erbbiologische Forschungen in der Schweiz.
Die Rolle der Bündner Psychiatriegeschichte wird immer wieder thematisiert. Die Auseinandersetzung wird jedoch dadurch erschwert, dass fundierte psychiatriehistorische Untersuchungen fehlen. Deshalb entschied die Regierung vor rund drei Jahren, die Psychiatriegeschichte des Kantons Graubünden wissenschaftlich vom Departement Geschichte der Universität Basel aufarbeiten zu lassen. Die vorliegende Studie bietet nun eine Grundlage für eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit der Psychiatriegeschichte des Kantons. Sie dient zudem als Informationsgrundlage zu der gegenwärtigen und zukünftigen Ausrichtung der Bündner Psychiatrie.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen prägten Bündner Psychiatrie
Die Bündner Psychiatrie wird insbesondere im Zusammenhang mit Zwangsmassnahmen und Medikamentenversuchen immer wieder thematisiert. Gemäss der Studie erfolgten bis 1980 ein Drittel bis die Hälfte der psychiatrischen Eintritte aufgrund von Zwangseinweisungen. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen betrafen häufig Fälle von Alkohol- oder Drogenmissbrauch, später auch von Selbstgefährdung. Durch die multifunktionale Anstalt Realta verfügte Graubünden über eine institutionalisierte und damit besonders enge Beziehung zwischen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Psychiatrie. Medikamentenversuche mit nicht zugelassenen Medikamenten fanden nur vereinzelt statt. Den Studienverfassern zufolge spielte die Bündner Psychiatrie bei der Erforschung neuer Psychopharmaka keine prominente Rolle.
Zentrum für erbbiologische Forschung und Entwicklung
Im 20. Jahrhundert war die Bündner Psychiatrie eines von mehreren Zentren für erbbiologische Forschungen in der Schweiz. Zu den entsprechenden Forschungsfeldern gehörten etwa die Stammbaumforschung und der Aufbau eines sogenannten Sippenarchivs. Auch setzten sich Bündner Kliniken stark für die Entwicklung und Anwendung neuer Therapien, wie etwa Insulinkuren und Elektroschocktherapien ein.
Nachhaltige Reformphase in den 1960er Jahren
Ab den 1960er Jahren haben in den Bündner Kliniken nachhaltige Reformen auf organisatorischer sowie auf angebotsmässiger Ebene stattgefunden. Es wurden spezialisierte Abteilungen mit Angeboten für unterschiedliche Patientengruppen wie Kinder und Jugendliche, Menschen mit Behinderungen oder ältere Patientinnen und Patienten entwickelt. Seit den 1970er Jahren wurden zudem die ambulanten und teilstationären Angebote der Bündner Psychiatrie stark ausgebaut. Die psychopharmakologische Wende habe es ermöglicht, Menschen mit psychischen Störungen auch ausserhalb der Klinik zu behandeln. Die Kliniken seien dadurch mehr und mehr zu Orten akuter Krisenintervention geworden.
(Bild: Verwaltungsarchiv Waldhaus)