Das Talsterben als bittere Realität?

Das Talsterben als bittere Realität?
Mayk Wendt
19.10.2018

Martha und Balzer führten einen kleinen Dorfladen im Tal. Nach vielen Jahren als Mittelpunkt des dörflichen Lebens, schliesst der Laden bald.  „Der Dorfladen“ ein Theaterstück von Tim Krohn nach einer Idee von Roman Weishaupt wird am Wochenende in Obersaxen aufgeführt.

Ist Abwanderung normal?

Im bereits leergeräumten Laden blicken Martha und Balzer, anrührend intensiv gespielt von Barbara Schneider und Peter Jecklin, auf ihr Leben mit dem Laden zurück. Dabei zeigt sich die grosse Bedeutung des kleinen Dorfladens in Bezug auf die dörfliche Gemeinschaft. Sie stellen dabei fest, dass die über Jahrhunderte entstandenen Dorfstrukturen sich in kurzer Zeit beginnen aufzulösen. Aufgrund von Abwanderung, zu wenig Geburten und der wirtschaftlichen Situation haben die einzelnen Gemeinden im Tal fusioniert. In Zeiten der Arbeitsmigration und der hohen Mobilität stellt sich der Frage der Gemeinschaft völlig neu. Die Post im Dorf wurde bereits geschlossen und auch das Schulhaus ist leer. „Abwanderung ist normal“, sagt der resignierte Balzer seiner tüchtigen Frau Martha. Aus dem Nebel tauchen mit fünf Musikern (Remo Derungs, Ursin Derungs, Sandro Deplazes, Liana Pirovino, Ursin Camenisch) musikalischen Nachklängen  auf, eine verblassende Erinnerung an die ehemalige Dorfmusik, die noch «so richtig schöne Uniformen hatte».

Die eigenen Erlebnisse als Vorlage zum Stück

2016 trat der Regisseur Roman Weishaupt mit der Idee ein Stück zum Thema Gemeindefusion zu schreiben an Tim Krohn heran. „Mir schwebte das Bühnensetting eines geschlossenen Dorfladens mit den beiden Figuren des Besitzerpaares Martha und Balzer vor. Ich hatte bereits zahlreiche von Gemeindefusionen Betroffenen interviewt“, erzählt Weishaupt. Tim Krohn führte ebenfalls Gespräche, insbesondere in der Val Müstair, in der er lebt. Daraus entstanden ist dieses Theaterstück übers Talsterben, das eine bittere Realität in fast allen Bergregionen darstellt.
Weishaupt wuchs in Degen im Val Lumnezia auf. Dort erlebte er eine lebendige Dorfgemeinschaft mit Dorfladen, vier Beizen, Poststelle, Schulhaus und 250 Einwohner. 2003 schlossen die Schule, die Post und eine Beiz gleichzeitig. „Bei der Generation meiner Eltern machte sich Resignation breit: Was sind wir? Wer will noch hier leben?“ erinnert sich Weishaupt an die Zeit zurück. Bei den Bewohnern begannen damit die Diskussionen:  Was war passiert mit ihrer Geschichte, mit ihrer Vergangenheit, mit ihren Traditionen, mit ihrem kollektiven Gedächtnis? „Aus diesem Grund entschied ich mich für einer theatralische Umsetzung zu dieser hochaktuellen Thematik im Kanton» so Weishaupt weiter. Im 2013 wurde Degen zur ganzen Gemeinde Lumnezia fusioniert. Aus 9 Gemeinden wurde 1.

Der Dorfladen als Mittelpunkt

Mit Hilfe einer Videokamera sollen Marta und Balzer einen Film zur Verabschiedung erstellen. Vor der Kamera erzählen sie von Erlebnissen, Geschichten und wollen sich auch mit einer „guten Botschaft“ verabschieden.  Geschichten kann Marta viele erzählen. Denn im Geschäft hört sie vor allem zu. Eine Meinung vertritt sie nicht. Das wäre wohlmöglich schlecht für den Umsatz. Wobei Umsatz nicht das wichtigste im kleinen Dorfladen ist. Anschreiben lassen oder Ware gegen Gefälligkeiten tauschen ist durchwegs üblich. Ob Jäger, Schreiner oder Pensionierte. Sie alle treffen sich im Dorfladen. Balzer ist zudem der ehemalige Gemeindepräsident und war früher, bevor der Wegzug sich ankündigte, auch als Organist und Dirigenten des Chores aktiv.  Zu jedem Dorf gehöre auch, neben Post und Schule, die Feuerwehr und die Sportvereine. Auch seien von der Fusion betroffen. Nur bei den Schiessständen war klar, dass nicht jedes Dorf einen eigenen benötigte und somit werden sie verschont bleiben.

Balzer blickt auf seine Zeit als Gemeindepräsident zurück und bemerkt, dass es nicht immer ein Zuckerschlecken war: Die Fusion hätte auch zum Ziel haben sollen, dass die Macht der Dorfkönige durchbrochen werden. Aber da ging alles plötzlich so schnell, dass alles nur noch 0815 umgesetzt wurde. Die zu treffenden Entscheidungen als Gemeindepräsident seien nicht immer leicht. Vor allem, wenn der Nachbar sein Maiensäss ausbaut und die Scheune gleich mit, was das Gesetz verbietet. «Aber sag das deinem Nachbarn von dem du soeben den Trimmer geborgt hast.»

Marta überrascht ihren Balzer dann mit fertigen Tatsachen: Der Laden werde von den anerkannten Flüchtlingen übernommen: «Das könnte doch eine Hoffnung sein für unser Dorf,» ist die tatkräftige Marta überzeugt.

Die Aufführung findet am Samstag 20. Oktober 2018 um 20:00 Uhr in der Mehrzweckanlage Meierhof in Obersaxen. Weitere Informationen: 081 933 22 22

 

(Bild: Mayk Wendt)

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Mayk Wendt

Journalist/Fotograf
Freier Fotojournalist, Mitglied der Fotojournalistenvereinigung freelens in Hamburg, lebt im Engadin.