Freie Zeit à discrétion 

Freie Zeit à discrétion 

Der Montagskommentar von Rachel Van der Elst.

 

Es war vor kurzem, als wir beschlossen, dass wir keine 1000 Franken mehr im Jahr für Zeitungen zahlen, in denen grosso Modo das drin steht, was wir den ganzen Tag vorher im Internet gelesen hatten. Man kann nun das Wegbleiben von Hintergrundinformationen beweinen, aber selbst da gibt es ab und an Lichtblicke in der Schweizer Online-Medienlandschaft. Und sonst bleiben einem noch Special-Interest-Seiten, Spiegel Online und CNN.

Wirklich: Es geht wunderbar. Und das, meine werten Leserinnen und Leser, sagt eine, die früher zwei, drei Tageszeitungen integral las und diverse Wochenzeitungen und -zeitschriften abonniert hatte. Allerdings war da auch Zeit und Geld genug vorhanden.

Dennoch bleibt eine Leere zurück; Rituale müssen neu erfunden werden. Kaffee und Zeitung/en, das ist vorbei. Morgendliches Anschweigen über den Zeitungsrand hinweg – tempi passati. Und das iPhone während des Essens – das kann man vielleicht mit einem Anschlag in der Grössenordnung von 9/11 entschuldigen; dann tut der TV aber die weitaus besseren Dienste.

Den Rest kriegt man auch sonst mit, und nach all den Ereignisse der letzten Wochen, bei denen man gar nicht weiss, wo man anfangen soll, ist weniger manchmal mehr. Meine Zeitungsapps verdienen nichts an Push-SMS, ich muss also regulär surfen, wenn ich was wissen will. Und bisher ist mir noch nichts durch die Lappen, im Gegenteil. Am Tag nach dem Nizza-Attentat kam ich nicht vom Bildschirm los, aber wie ich feststellen durfte, war ich da bei weitem nicht die einzige.

So frei ist denn meine Zeit auch ohne Zeitungen nicht, vor allem in derart ereignisreichen Zeiten wie diesen. Dazu gesellt sich ein weiteres Problem: In solchen Zeiten ist wirklich gar nichts so alt wie die Zeitung von heute, weil sich bis Redaktionsschluss die Dinge nochmals komplett geändert haben können – siehe zum Beispiel der Putsch in der Türkei oder auch der Amoklauf in München.

Das Problem liegt in der Natur der Sache und kann der Zeitung nicht zu Last gelegt werden. Tatsache aber bleibt: Wenn ich abends vor dem Einschlafen einen Adrenalin-Kick kriege wegen «Schiessereien in Istanbul», dann interessiert mich – und das muss nicht auf alle zutreffen – nicht die Bohne, welcher Fussballer zu welchem Verein wechselt und dass der Jodelclub Hintertupfigen immer weniger Mitglieder hat und verzweifelt neue sucht.

Trotzdem lass ich das Handy beim Morgenessen in der Tasche. Bei wirklich massivem Interesse kann ich ja immer noch notfallmässig eine Pinkelpause einschieben. Oh! Da liegt eine Zeitschrift! Bis später, wir lesen uns!

PS: Wir freuen uns für die Bäume, die dank uns nicht gefällt werden müssen, und sind ein bisschen traurig, dass sich das allmonatliche Gewichtestemmen aka Zeitungsbündel auf die Strasse zu stellen, extrem minimiert hat.

(Symbolbild: Pixabay)
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Rachel Van der Elst

Redaktionsleiterin/Region
Rachel Van der Elst mag Buchstaben: analog, virtuell oder überall, wo Menschen sind. In einem früheren Leben arbeitete sie unter anderm bei der AP, beim Blick, bei 20Minuten, beim Tages-Anzeiger und bei der Südostschweiz. In ihrer Handtasche immer dabei: Jasskarten.

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