Lieber Max Rüdlinger
Es war an einem Freitag, mitten auf der Taminabrücke: Ich schrie «Judihui!». Zu meiner Rechten das dunkle, gäche Tobel, zur Linken die weite Welt diesseits der letzten Rapsfelder Rhätiens. Auf dem Bordcomputer Kilometer 404, in meinem Kopf, wie aus dem Nichts, der Rüdlinger – glasklar! – just im Moment des Aufschreis. Herrgottsternen, wo kommt der plötzlich her, und wieso jetzt? In meinem glücklichsten Moment einer sehr bescheidenen Velokarriere, quasi auf dem ersten Pedalhöhepunkt, dachte ich – an Sie! Oje.
Von vorne. Ich habe im 2019 einige öffentliche Briefe an Personen aus den selbstironiefreien Branchen, den «Tripel-P’s», wie ich sie zu nennen pflege – Politiker, Priester, Pädagogen – getippt. Leider fielen die Reaktionen jeweils bitter aus, fast gfürchig. Mit den Leuten ist nicht zu spassen. So nahm ich mir beim Neujahrsmorgenzopf vor, heuer jemand anderem schreiben zu wollen, einem, der sich freuen würde. Indes fiel mir bis Ende April keine Sau ein. Bis jetzt.
Wir sind uns vor über zwanzig Jahren zum ersten Mal begegnet, in der Churer «Palace Bar»: dunkle Szenerie, rauchgeschwängerte Luft, das Ittinger frisch und mächtig. Ich kam alleine, den Rüdlinger lesen zu sehen. Zwanzig andere, die einen Hauch von brüchiger Intellektualität umgab, waren auch da; schwarze Hemden, selbstgebastelte Zigaretten, ausgelatschte Camel-Boots. Die Nischenveranstaltung im Keller unter der Molkerei ward mir die Welt: Ihre Geschichten, die fremden Menschen und Brigittes warmes Ciabatta mit dem gschmackig-wuchtigen Kräuteröl, eine olfaktorische Reizüberflutung, die mich gar aus dem tiefsten Rausch für Augenblicke zurück an diesen Tresen zu holen vermochte.
Jahre später, auf einem Campeggio im sizilianischen Avola, habe ich Ihre Memoiren gelesen. Bei zweiundvierzig Grad und wenig Schatten. Hätte nie gedacht, dass auch ich mich mit vierzig Jahren eines Tages aus der Krise aufraffen müsste, mir etwas Gutes zu tun, mit haarigen Beinen, fern jeder Würde, in die kurzen Hosen zu steigen – und aufs Velo. Ich entsinne mich Ihrer Zeilen (vgl. Rüdlinger, 2007: 220f): Sie fuhren wagemutig ans Nordkap –; ich erkor mir Vättis als Ziel. Vorerst. Es heisst, nach dreissig Minuten Pedalerei würde der Endorphinrausch einsetzen. Bei mir war es das Seitenstechen. Der Rausch kam auch Stunden später nicht. Nur dieser klitze kleine Moment auf der Abfahrt, 200 Meter über der Tamina bei 51.3 km/h: ein Juchzer. Und Sie.
Herr Rüdlinger, ich fürchte, weiter üben zu müssen, werde meine Fahrradexerzitien ernsthaft vorantreiben, auch wenn ich den Göppel manchmal verfluchen könnte. Überdies ist es schwierig, einsame Routen zu finden. Auf den Hügeln meiner Heimat tummeln sich Bataillone von Zweiradfetischisten, die freiwillig ihr Rad schultern, wie getriebene Gebirgsinfanteristen ihr Gewehr. Gut möglich, dass ich in meiner geliebten Asozialität bald zum Nachtfahrer mutiere!
Ich bräuchte allerdings noch Tipps vom Profi. Ich kann mich erinnern, dass die Tour de Suisse Fahrer, welche in meiner Kindheit am Rheinquartier vorbei radelten, jeweils mit einer gekonnten Geste den Rotz aus der Nase direkt an den Rand der Ringstrasse schleuderten. Einer schaffte es gar an die Mauer des hässlichen Fussballplatzes. Ich habe das kürzlich – in actu – versucht, und mir dabei meine gesamte Sonnenbrille eingesaut: Der viskose Schleim beraubte mich meiner Sicht, war nicht zu bändigen. Entgegenkommende Genossinnen zeigten mir schon den Vogel. Wie haben Sie dieses Problem gelöst? Ähnliches erlebte ich fürderhin beim Brünzeln vom Rad (die Brille nicht betreffend, natürlich!), möchte da aber nicht zu stark ins Detail gehen.
Max Rüdlinger: Wo sind Sie? Helvetien bedarf – gerade jetzt – einem profunden Kenner der Langeweile, und der Kunst, sie in Kapriolen artistisch zu umtanzen oder sich ihr ganz hinzugeben. Mit bübischem Schalk und herzwerwärmender Miesepetrigkeit. Ich benötige zudem dringend ihre Velotipps, schicke Ihnen im Gegenzug dann und wann gerne eine Postkarte von unterwegs.
Bis bald, werter Kollege! Sollte in der rhätischen Metropole dereinst wieder eine gescheite Bar (siehe oben) öffnen, begeben wir uns schnurstraks salbander an die Theke!
Hypermotorisch, kurzhosige Grüsse
Ihr Christian Stalder
Velofahrer, Bücherleser und Völlereipraktizierender (Reihenfolge aufsteigend)
PS: Sollten wir tatsächlich die «letzten Menschen» sein (Nietzsche feat. Stefan Zweifel, NZZ Feuilleton vom 14.4.2020), sollten wir früher zum Bier!