Chant da Goita – der Geist des Heimkommens

Chant da Goita – der Geist des Heimkommens

Mena Dressler
30.12.2016

Das Silvestersingen ist ein liebgewonner Brauch, der noch in vielen Bündner Gemeinden lebendig ist. In Bergün wird die Tradition des Chant da Goita bereits seit mehr als 100 Jahren gepflegt.

Jedes Jahr am 31. Dezember treffen sich die Sängerinnen und Sänger um 22 Uhr im Oberdorf, um den Jahreswechsel mit besinnlichen Liedern willkommen zu heissen. Das Silvestersingen – in Bergün ist es mehr als einfach nur Singen. Es ist eine «Klassenzusammenkunft», ein Familientreffen. Die Cloettas, die Nicolays, die Gregoris und alle anderen Bergüner Familien – Silvester ist «ihr» Abend, der Abend an dem alle Familienmitglieder wieder zurück nach Hause kommen. Annetta Tscharner-Gregoris Familie in Alvaneu beispielsweise muss an Silvester auf die Ehefrau und Mutter verzichten, «um nichts auf der Welt verzichte ich nämlich auf den Brauch meiner Kindheit»! 

80% der Sängerinnen und Sänger leben eigentlich gar nicht mehr in Bergün, aber der Chant da Goita ist für sie ein Pflichttermin, wichtiger als Weihnachten. Für die «Heimweh-Bergüner» ist es eine Reise in die Vergangenheit, eine Rückkehr zu vertrauten Wurzeln. Während der beiden Proben wird ausschliesslich Romanisch gesprochen, und beim gemütlichen Beisammensein im Anschluss lebt das Romanische so richtig auf. Geschichten machen die Runde, und Corina Puorger, Bergün-Heimkehrerin nach 30 Jahren, rechnet nach, wie oft sie in ihrem Leben das Silvestersingen verpasst hat: «Nur ein einziges Mal in meinem Leben!» Bis spät in die Nacht wird noch gesungen und man tauscht sich aus – natürlich auf romanisch.

Am Altjahresabend nun ziehen die Bergünerinnen und Bergüner gemeinsam von Laterne zu Laterne, erst durch das Oberdorf, dann den Chant hinunter in die Giassa, hinunter in die Fuschena und schliesslich bis ins Unterdorf. An insgesamt 17 Standorten werden deutsche und romanische Alt- und Neujahrslieder gesungen. Auf ihrem Weg durch das Dorf werden die Sängerinnen und Sänger von immer mehr Zuhörern begleitet – bis der Chor um kurz vor Mitternacht den Dorfplatz erreicht, ist er bereits zu einer grossen Schar angewachsen. Dann, von kurz vor bis kurz nach Mitternacht, begleitet das Lied «Ün mumaint e l’ura batta»/»Nur noch wenige Sekunden» die auf dem Dorfplatz versammelte Festgemeinschaft, um das alte Jahr zu verabschieden und das neue zu begrüssen. Ursprünglich war der Brauch, singend von Laterne zu Laterne zu ziehen, ausschliesslich der Jungmannschaft vorbehalten, es war also eigentlich ein «Chor der Ledigen», aber inzwischen sind alle Erwachsenen willkommen. Der Ursprung des Goita-Singens, so wird vermutet, geht auf den singenden Nachtwächter aus alter Zeit zurück. Für die Bergüner ist es ihr grosses Heimkommen, Anfang und Ende zugleich – und ihr liebster Brauch.

(Bild: Bergün Filisur Tourimus)

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Mena Dressler

Redaktorin Region Albula
Texterin mit bajuwarischen Wurzeln. Auf fast allen Kontinenten aufgewachsen, nun seit fast 13 Jahren im schönsten Kanton der Welt daheim. Sammelt Länder, liebt Berge, Sprache und Sprachen und gute Bücher.