Die Sache mit dem Etikett und der Etikette

Die Sache mit dem Etikett und der Etikette

Heute mach ich es kurz. Steile Ausgangslage. Also: Manchmal nehmen wir es hierzulande nicht so genau (Damit wäre eigentlich alles gesagt, wer trotzdem weiterlesen will, bitteschön!). Sprach verliebte müssen sich dann halt – klammheimlich – bei der grossen Schwester im Norden umsehen. Nein, ich meine nicht Angela Merkel, ich meine die Bundesrepublik Deutschland und deren profunden Kenntnisse sprachlicher Feinheiten im Deutschen. Die Sache ist die: Meine neuen T-Shirts kratzen mich lästig, während ich einen Artikel der WOZ lese. Beides nervt. Das überdimensionierte Etikett des Massenprodukts hängt noch immer an der Innennaht. Da steht ungemein viel geschrieben, bestimmt für langweilige Zugfahrten, handylose Tage oder auf Konformität bedachte HauswirtschafterInnen. Ich habe vergessen, es direkt nach dem Einkauf abzuschneiden und fachgerecht zu entsorgen. Lästiges, fünf einhalb Zentimeter langes Etikett! Während ich das eine loswerden will, erkenne ich, wie wir selber tagtäglich da ein Etikett, dort ein Etikett hinhängen. Das ach so komplexe Leben wird so greifbarer, einfacher verstehbar, gleichsam auf ein erträgliches Mass verringert. So gesehen, eine gute Sache; wer will schon alles verstehen müssen. Das Anhängen eines Etiketts an Menschen oder Menschengruppen vereinfacht uns das Leben genau so. Nur: Einmal das Etikett, die Zuschreibung angeheftet, ist es ein Einfaches, Menschen aus den eigenen Reihen und dem Werterahmen der Gesellschaft zu entlassen. Das ist ganz leicht. Jene mit dem Etikett gehören nicht dazu. Etikettierte sind «die Anderen». Es gibt also uns – das Wir – und diese Anderen.
Für die Anderen gelten andere Gesetzmässigkeiten. Also beispielsweise für die Behinderten, die Alten, die SozialhilfeemfängerInnen, die Menschen mit Migrationshintergrund, die Deliquenten, die Kombination beider, die Komischen, die Flüchtlinge, die Fremden, die ADHSler etc. Fragt sich, wer da beim «Wir» überhaupt noch mitmischt.
Just nachdem wir die Anderen als die Anderen definiert haben , sie also ausgrenzen, verlieren wir unsere Etikette, meint: die Benimmregeln, die gesellschaftlichen anerkannten Umgangsformen, das, was sich ziemt. Beispiel? Auf dem Balmberg zu Solothurn parkiert der Kanton SO in Kooperation mit dem Bund jene Menschen, welche – etikettiert als «abgewiesen Asylsuchende» – das Land zu verlassen haben, aber aus unterschiedlichen Gründen noch nicht können. Da warten sie also und werden dabei betreut. Besser: überwacht. Diesen Job hat der Kanton SO, wie andere Kantone übrigens auch, einem börsennotierten Unternehmen übertragen, das damit ordentliche Gewinne ein fährt. Früher im Tourismusgeschäft mit der Vermittlung von HotelanimateurInnen beschäftig, lockt heute das Geschäft mit den unfreiwillig Reisenden aus aller Welt. Fehlende Innovationskraft kann man denen nicht vorwerfen, fehlende Orientierung am Prinzip Menschlichkeit schon. Die Zustände hoch oben am Balmberg und anderswo werden gerne als «bescheiden, aber menschenwürdig» bezeichnet. Die Realität zeigt sich erwiesener massen anders. Die Zustände im Schweizer Asylwesen, insbesondere der Asylsozialhilfe, sind problematisch, unhaltbar.

Interessant dabei: Sobald wir die Lebensumstände der Anderen beurteilen und einrichten, verlieren wir den eigenen Massstab und die damit einhergehenden Umgangs formen rasch und ohne jedwede Gewissensbisse. Menschenwürdig ist dann plötzlich vieles. Warum das so ist? Unter anderem des Etiketts wegen. Menschenrechte gelten selbst in der Schweiz längst nicht für alle gleich.​ Das Phänomen begegnet uns im Alltag: ausgegrenzte Kinder in der öffentlichen Schule, dubiose Schwarze am Bahnhof, deliquente Jugendliche in den Vorstadtgassen – überall, immer wieder.
Der Bund wird ab März die Abgewiesenen in eigenen Bundesasylzentren verwalten. Die Broschüre dazu sieht hübsch aus. Mit Farbfotos von glücklich Etikettierten. Wenigstens lagert die gütig – erhabene Helvetia die Verantwortung für die Zustände nicht mehr aus. Ändern wird das wenig. Die Schweiz , das kleine Land inmitten Europas, hat grosse Aufgaben vor sich! Aber eben: Manchmal nehmen wir es hierzulande nicht so genau.
PS: Kürzlich zeigte mir einer am Brokkoli-Gestell den Vogel. Hoppla! Ihm sei die Lektüre trotzdem empfohlen. Und: Nächstes Mal verliere ich die Etikette und klebe ihm das Brokkoli-Etikett mitten auf die Stirn. Ernsthaft!

 

(Bild: Unsplash)

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.