«Mit Büchern eine Strasse nach Bergün gebaut»

«Mit Büchern eine Strasse nach Bergün gebaut»

Ein Buch, so gewaltig wie der Fels, um den es sich dreht: Antonia Bertschinger hat «Bergünerstein II. Der Mord» vorgestellt und sich von der Grande Dame der Graubündner Literaturszene, Romana Ganzoni, dazu befragen lassen. 

Zwei Frauen, eine Leidenschaft: Buchstaben. Bücher. Auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Romana Ganzoni hat ein Buch über die zusammengestürzte Brücke geschrieben («Tod in Genua») und dabei die zigarettenrauchende Zia Matilde erschaffen – und dabei die ganze Italianità so rübergebracht, als sässe man bei ihr in der Küche und würde ihr beim Rauchen zusehen. 

Ganz anders Antonia Bertschinger. Ihr Buch spielt mehrere Jahrhunderte früher, in einer Zeit, in der nur die Volksseele rauchte: Es geht um Vetternwirtschaft, um Hexenjagden und die Strasse nach Bergün durch den Bergünerstein, die, Achtung Spoiler, auch in diesem Buch nicht gebaut wird. Es dauert einen Moment, bis man sich das visualisiert hat: Es gibt noch keine Schlittelbahn, keine RhB und eine Reise nach Chur kann zu Pferde schon einmal länger dauern. 

Diese zwei Frauen mit ihren Frauen im Gepäck haben sich am Sonntag im Speisesaal des Hotel Ela in Bergün vor gut 60 Personen zur Vernissage von «Bergünerstein II – der Mord» getroffen. «Wir feiern das Buch. Wir bestehen auf Band 42», sagte Romana Ganzoni, die den Anlass moderierte und als Beraterin für romanische Übersetzungen mitgeholfen hatte. «Es ist ein fantastisches Werk. Hier schreibt eine Autorin aus dem Unterland. Ich nenne das Selbst-Einbürgerung», sagte Romana Ganzoni. «Sie hat eine neue Strasse mit ihren Büchern gebaut.» 

Die gebürtige Zürcherin Antonia Bertschinger lebt nach Jahren in Basel seit letztem Jahr in Bergün – ihr Zuhause ist jetzt das einstige Ferienhaus der Familie. Wenn man ihren Figuren im Buch folgt, sieht man die alten Herrschaftshäuser von Bergün vor sich; eins davon ist der hintere Teil des Hotels Piz Ela, das einer Bürgerfamilie aus dem Buch einst ein Zuhause war. 

Ging es bei «Bergünerstein I – der Krieg» um die Magd Luzia aus dem Prättigau, die nach Brauegn kam und sich eine neue Existenz aufbaute – eingewickelt in die Geschichte um den ersten Versuch, den Bergünerstein zu sprengen -, so geht es 30 Jahre später im zweiten Band um die Stickerin Luzia (aka Magd Luzia), die ihrem Mann am Sterbebett ihre Sünden beichtet. Es gibt den Verdacht einer Hexe – und das alles ist eingebettet in die Geschichte des zweiten Versuchs, den Bergünerstein zu sprengen. Dieser Versuch ist die Folge von Vetternwirtschaft, in einer Zeit, in der die Herren der oberen Schichten die Macht reihum an sich selbst verteilen und Frauen nur als Statisten figurieren. 

Bei allen historischen Details liest es sich in vielen Teilen so, wie wenn es sich heute zutragen würde – im übertragenen Sinne. «Ich habe grosse Mühe mit der Romantisierung der Hexen», sagt Antonia Bertschinger. «Das waren keine Kräuterfrauen die in den Wald gingen, das waren unbeliebte Frauen, die ausgeschlossen wurden, und wenn sie angeklagt waren, hatten sie meist keine Chance.» Ihre Recherchen in Prozessakten aus dem 17. Jahrhundert hätten gezeigt, dass das ganz normale Frauen waren. «Sexuelle Gewalt war allgegenwärtig. Die angeklagten Frauen waren meist nur mit einem Unterhemd bekleidet. Man sagte von ihnen, sie hätten Sex mit dem Teufel gehabt.» «Victim Blaiming hoch 1000», sagt Romana Ganzoni dazu. 

Die hohe Kunst des Buches ist auch, es wie leichte Lektüre wirken zu lassen – und dabei ganz viele Botschaften zu verstecken. «Ich konnte ja nicht eine Hauptfigur haben, die an die Hexen glaubte. Deshalb ist Luzia den Hexen gegenüber sehr ambivalent. Es wäre falsch, ein Buch aus dem 17. Jahrhundert ohne moderne Gedanken zu schreiben, aber man muss es in jener Zeit erzählen», sagte Antonia Bertschinger, die sich auch als Quellennerd bezeichnet. 

«Bergünerstein II» ist deshalb auch eine Hommage an die Frauen. «Du hast ihnen ihre Unschuld zurück gegeben», sagte Romana Ganzoni. Dazu passt, dass im noch nicht geschriebenen dritten Teil der Trilogie die Stickerin Luzia als alte Frau ihren Frieden findet. Und der Bergünerstein endlich gesprengt wird. 

Die beiden ersten Bände – ein Muss für Geschichtsinteressierte und ein weiteres Muss für Freundinnen und Freunde der Bündner Geschichte! – des «Bergünerstein» sind in der Edition Scumpigl erschienen und können in der Buchhandlung des Vertrauens oder direkt bei Antonia Bertschinger bestellt werden: berguenerstein.ch

(Bild: GRHeute)

 

 

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Rachel Van der Elst

Redaktionsleiterin/Region
Rachel Van der Elst mag Buchstaben: analog, virtuell oder überall, wo Menschen sind. In einem früheren Leben arbeitete sie unter anderm bei der AP, beim Blick, bei 20Minuten, beim Tages-Anzeiger und bei der Südostschweiz. In ihrer Handtasche immer dabei: Jasskarten.