Wir haben uns am Samstag, dreizehn Uhr zehn Ortszeit in einem Smart-Discounter in Wädenswil getroffen. Kasse eins. Sie im türkisenen Shirt, mit ungepflegten Füssen. Ich Kohlrabiblätter tragend, mit leichten Schweissflecken unterm Arm und Rachmaninoff pfeiffend. Ach, das Piano Concerto #2 (nicht Hashtag, Nummer!) in C Minor, Opus 18: eine sinnliche Freude, nicht? Es war stickig. Das raffgierige Gehabe all der Menschen zwischen Kühlregalen und Wühlkisten nervte gehörig und gab Anlass zur Sorge, dass der (aller-) letzte Sommersamstag grillapokalyptisch zu Ende geht. Ich weiss nicht, ob Sie sich zusammen mit Ihrem Mann noch einmal leise an den Grill gesetzt haben. Kochen tun Sie ja glaubs nicht so gerne, gell? Zumindest Kartoffelsalat beziehen Sie konsumfertig aus dem Halbliter-Kunststoffkübel mit praktischem Henkel. Ist ja auch ne Plackerei, dieses Kartoffelgekoche.
Was ich nicht verstehe, weshalb Sie sich gegenüber der Dame an der Kasse mit Detailhandelsassistentenstatus so unfreundlich verhalten haben. Ja, Sie mussten warten. Und ja, der Cashbox-Code wollte nicht, wie er sollte. Aber: Nein, da kann die Dame im Gilet bleu mit dem Headset im Ohr nichts dafür!
Während wir da so standen, Sie mäkelig die Dame anblökend, habe ich – nachgedacht. Über Ihren Einkauf. Ihr Leben. Und darüber, wem Sie den hässlichen SALE-Blumenstrauss auf dem Kassaband vor uns wohl schenken würden. Und über die Freundlichkeit. Liebe Unbekannte: Was hätte Sie ein Lächeln an dieser Kasse gekostet? Stellen Sie sich einmal vor: Was wäre, wenn Menschen (Menschen generell, wie Sie im Speziellen) freundlicher wären? Glauben Sie ja nicht, ich käme aus der Reformhaus-Esoterik-la-vida-da-vuelta-Ecke – weit gefehlt! Nur, so ein Lächeln und ein aufgeschlossenes «Grüezi» kosten doch nichts. Vielleicht wären mit etwas Freundlichkeit die Abgründe unseres Alltags weniger beängstigend, wären alle Nachbarn zumindest temporär aushaltbar, wären Gemeindeversammlungen besuchenswert und Telefonate mit dem Steuerbeamten erbaulich. Et cetera pp. Und denken Sie weit!
Das ist nichts Neues: In den alten Mittelmeerkulturen des Vorderen Orients thematisieren der Weisheitsliteratur zuzurechnende Texte die kleinen Fragen des alltäglichen Zusammenlebens. Universelle Maximen, tausendfach gesampelt, kürzlich wiederentdeckt. Jan und Aleida Assmann, die Friedenspreisträger des deutschen Buchpreises 2018, plädieren auf dieser Grundlage für – den Menschenrechten zur Seite gestellte – Menschenpflichten; faires und respektvolles Zusammenleben, nicht verschlagwortet, verstanden als simple, handlungsleitende Maximen. Ein lesenswertes, ein wichtiges Buch!
Merken Sie was? Ihr freundliches Weglächeln der Misere an der Kasse eins im stickigen Wädenswiler Discounter könnte den Anfang eines neuen Gesellschaftsvertrages darstellen. So etwas haben wir hier in Europa bitter nötig. Das betrifft zentrale Fragen des Gegenwartsdiskurses. Sie, ich und der Kartoffelsalat im Eimer hätten die Sache wuppen können. «In Wädenswil, anno 2019…», hätte es später geheissen.
Die Cashbox klickt. Ein Seufzer, ein Code, weg sind Sie. Mutmasslich sind Sie gar nicht so ein harter Brocken, wie Sie den Anschein machen wollen. Vielleicht sehen wir uns wieder: Dann haben Sie mich in Sachen Freundlichkeit an der Backe. Übrigens: Habe nach Ihrer Vorstellung versucht, fesch dem unterdessen ebenfalls säuerlichen Gesicht im Gilet bleu ein Lächeln zu entlocken. Sie hätten es sehen sollen: ein Feuerwerk!
Mit ungespielt freundlichen Grüssen,
Ihr Christian Stalder (der mit den Kohlrabiblättern).
PS: Knackgas, das ultimative Gefühl von innerer Befreiung erzeugt Knackgas, das die Chiropraktorin behände meinen Wirbeln entlockt. Wäre so was auch in einer Gruppe durchführbar? Zusammen knacken, immer mittwochs um acht im Gemeindesaal? Machen Sie mit?