Auf den Tag vor 93 Jahren erblickte Charles «Chuck» Edward Anderson Berry das Licht der Welt. Und mit ihm dieser unbeschreibliche Beat. Dieses freche, leichte, perfekt gesetzte Spiel. Neue, fast eigenhändig gezeichnete Musik eines Rock’n’Roll-Architekten. Lennons oder Dylans späteres Schaffen wäre ohne den Mann aus St. Louis undenkbar, zumal dessen sprachverliebte Lyrik den Songs reichlich Tiefe und zeitlose Aktualität verlieh. Die Charts von heute kennen sowas nicht mehr: Berry scheute sich nicht, der Elite gerne mal charmant-demonstrativ eins auszuwischen und fast schon im Vorbeigehen den radikalen Wandel in der (Kunst-) Welt einzuläuten. ‹Roll over Beethoven› zeugt davon.
Was genau derzeit über Helvetien rollt, darüber orakeln wahlkampfübermüdete PolitikerInnen, gern auch selbsternannte Experten und nicht zuletzt das SRG-Wahlbarometer; verlässlich ist irgendwie anders. Und die braven Bürgerinnen und Bürger müssen sich den Stoff reinziehen, der sich immerdar aufdrängt, grad so wie ein ungehobelter Gast an einer schlechten Party. Wie das Farbenspiel im Resultat aussieht, sehen wir am Wahlsonntag. Danach wird es – mal eben diese Resultate bewusst zur Seite gestellt – hoffentlich ruhiger. Ich freue mich, auf dem Weg zu täglich Brot den vielen weissen Zähnen nicht mehr begegnen zu müssen. Auf dem freien Felde die Kuh zu bestaunen, und nicht die Föhnfrisur neben der Kuh. Und keine unnützen Statusmeldungen von Stimmenfangenden mehr krampfhaft ignorieren zu müssen. Was die alles tun! Bald kehrt hoffentlich Ruhe ein im kleinen Land, da die motivierten Gewählten endlich damit beginnen, beflissen zu arbeiten. Etwas zu ändern. Hoffentlich. Möglicherweise.
Ich habe mich kürzlich gefragt, was ich von diesem Wahljahr eigentlich mitnehme. Es kam mir auf Anhieb nichts in den Sinn. So ging ich auf Reisen, entlang dem grossen Wasser. Gedankenverloren neben der ausgebüxten Helvetia stehend – erinnere ich richtig, habe ich sie tatsächlich sanft streichelnd getröstet? – auf den glitzernden Rhein äugend und den würzigen Dürumsaft an meinen Fingern riechend, kam mir etwas in den Sinn: Menschen. Einige wenige Menschen, die mich tatsächlich überrascht haben. Meist mit Haltungen und Taten, die ich ihnen weder zugetraut noch zugemutet hätte. Jenseits aller Parteigrenzen. Ja, vor allem jenseits meines politischen Spektrums. Hoffentlich beginnen auch sie bald wieder, tatkräftig zu wirken. So, genug der Gefühlsduselei.
Das berühmte Intro zu ‹Johnny B. Goode› bedarf übrigens 34-Achtelsnoten, vier Takten und etwas versiert synkopischen Zwicks – et voilà, das Ding rockt. Nur: Kriegen Sie das Intro mal so hin, müssen Sie die 2 Minuten und 39 Sekunden Minimalspielzeit danach ebenfalls stemmen. Die Spannung, den Groove behalten. Kein leichtes Spiel! Wie das unseren frisch Gewählten ab Montagmorgen gelingen mag? Drei Dinge dürfen Sie sich von Altmeister Chuck Berry schon mal abkupfern: Er begründete ein Selbstbewusstsein einer jungen Community, welche sich den gängigen Vorstellungen der Erwachsenenkultur nicht einfach unterordnete. In seinen Ansagen war er stets eines: klar. Und schliesslich: Das «Hinwegrollen» meint doch eigentlich tiefgreifende Veränderungen, anders formuliert: sozialen Wandel. Na dann: Roll Over Helvetia!
PS: Quitten am Baum / Manch einem ein Traum / Ich habe Spass / Wenn sie gären im Fass. (Herbstgedicht I, prädestilliert. In: Stalder Ch. (2019): Begründet unveröffentlichte Werke. Chur: noch ohne Verlag).
(Bild: «Die Freiheit» (Helvetia), Gemälde von Arnold Böcklin um 1891/Andreas Fässler/Wikipedia)