Staldereien: «Kir Viral, bitte!»

Staldereien: «Kir Viral, bitte!»

Aus dem Radio scheppert mir Huber einen seiner Songs ins linke Ohr. Einen Neuen. Klingt aber wie einer seiner Alten. Das radiotauglich Ding vermag meine Stimmung nicht zu heben. In den letzten Stunden haben die Viren in mir zur Rundumschlag-Schaumparty ausgeholt, lassen den Gaumen in blaterigen Wölbungen feuerlich erröten, pumpen gefühlte drei bar unter die Schädeldecke und halten meine Nasenhöhlen im Würgegriff; mein Wahlsonntag, ein leidvolles Desaster. Ich bin ein Aussätziger inmitten der Massen. Die einzigen Fenster zur Welt sind besagtes Radio, Fernsehen und 4G: Da flimmern sie, die Bilder vor meinem darbenden Geiste. Während die neuen Roten bereits früh tief befriedigt auf die Bildschirme grinsen (jetzt oder nie), die Genossen vorsorglich schon den Prosecco in Händen halten (komme was wolle!) und die VertreterInnen der volksnahen Sonnenpartei mantramässig Wählerstärke verkünden (brav einstudiert), schnäuze ich literweise Viralschleim in billiges Klopapier. Irgendwo schnieft ein erster Abgewählter mit, derweil die leicht hyperaktive Generalsekretärin einer Mittepartei immer dann durchs Bild huscht, wenn sie nicht soll. Hochrechnung um Hochrechnung. Analysen, Stellungnahmen, Grafiken. Wieder Analysen. Und Labels. – Fiebertrunken schlafe ich ein. Wie ich erwache, ist die politische Schweiz eine andere.

Drei Dinge liegen neben mir und den kindergeburtstagsmässig anmutenden Klopapierschlangen: eine Postkarte von Jean Tinguely, ein Buch zur Praxis der Revolution und ein Bert Brecht Zitat, Tinte auf Zeitung. Lässt sich damit die neue Welt erklären? Ich denke schon!

Der dargebotene Cocktail hat doch seine Reize. Mal abgesehen von übermässig jubelnden oder unverhältnismässig enttäuschten animaux politique, mit leichtem Hang zur Selbstliebe und mächtigem Einflussstreben, dreht sich die Erde weiter. Ihnen allein gehört der Erfolg so oder so nicht. Ähnlich wie diese Tinguely-Kibernetik-Skulpturen – kreisend, krachend, ächzend –, bedarf es vieler zusammenhängender Kleinteile für eine Bewegung, die Stabilität und Entwicklung zugleich auf eidgenössischem Boden schafft. Den einfallslos als ‹Klimajugend› bezeichneten Jungen, die mutig den Weg auf die Strasse gewählt haben und hartnäckig kritisch bleiben, ist mindestens soviel zu verdanken wie cleveren Listenverbindungen. Wuppen dürfen es jetzt die durchgeschüttelten ‹Klimaadulten› in den beiden Kammern. 

Sind die historischen Resultate der Oppositionswahl eine Revolution? Vielleicht in Teilen. In Revolutionen wird zwar alles anders, aber nicht alles neu, so man der klugen Eva von Radecker folgen will. Wenn auch nicht jedes «Gefällt» revolutionär ist, erwächst das Revolutionäre dennoch aus dem Bestehenden, wird in den Zwischenräumen inmitten der Gesellschaft eingeübt, fern jeder Steuerung oder Planung. Und irgendwann, ja irgendwann, wenn Konstellationen, Bedingungen, Fügungen stimmen, ist auch radikaler Wandel möglich. 

Und jetzt? Brecht schrieb mal: «Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebene.» Meine Mühen liegen gerade in mir, auf mir. In schleimartiger Konsistenz. Rotz von allererster Güte. Dennoch: Den neu Gewählten seien Brechts Worte zum Geleit mitgegeben. Den gebrandmarkt Abgewählten auch. Denn Brecht hat fast immer Recht. Den Glücklichen wünsche ich gute Reisen nach Bern und hoffe insbesondere auf gleichsam stabile wie innovative Entwicklungen. Auch für Graubünden. Anstossen können die Sieben und ich ja später mal. Stösschen!

PS: Waldbadend erholt sich das PS von den Strapazen. Waldbadend. 

 

(Symbolbild: Pixabay)

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.