Einer, der «im Schatten wandert» und «nie einfach stirbt»

Einer, der «im Schatten wandert» und «nie einfach stirbt»

Wenn er einen Raum betritt, dann muss man zwangsläufig hinschauen. Mit seiner enormen Statur (1,96 m gross, 145 kg schwer) ist er rein körperlich in der Lage, die Sonne zu verdunkeln. Das ist aber noch lange nicht alles, was Calanda-Broncos-Offense-Lineman André Mathes auf dem Football-Feld drauf hat: Die Kombination von brachialer Gewalt mit tausendfach einstudierter und ausgeübter Technik und der Erfahrung von ungezählten Schlachten auf grossen und kleinen Gridiron-Bühnen haben Mathes zu einer Legende der Sports gemacht – nicht nur bei den Broncos, sondern in ganz Football-Europa.

Mittlerweile ist der Deutsche, der die letzten 10 Jahre Anker im Angriff der Broncos war, 46 Jahre alt. Football-müde ist Mathes deswegen noch lange nicht: Am Samstagabend um 18 Uhr strebt er im Swiss Bowl XXXV gegen die Bern Grizzlies einen weiteren Titel an. Eine Geschichte von Schweiss, Tränen, Euphorie und Liebe. Die Liebe zu «seiner» Offense Line.

 

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Als Jugendlicher war Mathes im Turnverein, zum Footballsport kam der grossgewachsene Deutsche als Spätzünder erst mit 20 Jahren. «Ein Freund aus dem Nachbardorf, Volker Thiele, und ein anderer Kumpel, Marco Dilg, waren massgeblich dafür verantwortlich, dass ich Football entdeckt habe», erinnert sich Mathes an seine Anfänge Mitte der 90er Jahre zurück, als sie ihn in ein Training schleppten, «sie haben mich in die Defense Line gestellt, wo ich als Neuling halt spielte, so gut es eben ging.»

Im zweiten Jahr wurde er zum Offense Tackle umfunktioniert, die so wichtige Position im Angriff, die die blinde Seite des Quarterbacks schützt. Auch sein Jugendfreund Thile («er ist noch einen Kopf grösser als ich») wurde übrigens Offense Tackle – als Anker auf der anderen, rechten Seite der Offense Line.

Dass aus seinen ersten Footballversuchen eine Liebe seines Lebens werden würde, ahnte er damals noch nicht.

 

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Beruflich absolvierte Mathes eine Ausbildung in der familieneigenen Schlosserei in Guntersblum in der Nähe von Mainz, die er heute zusammen mit seinem Bruder leitet. 1949 war Mathes Grossvater aus der Kriegsgefangenenschaft in Russland zurückgekehrt und hatte das Unternehmen im Alleingang gegründet. Die Arbeit absolviert er mit ebenso viel Stolz, wie er auf dem Footballfeld spielt. «Wenn ich was mache, dann aus ganzer Überzeugung. Ganz oder gar nicht», sagt er bestimmt.

Die sportliche Karriere von Mathes von den Mainz Golden Eagles Mitte der 90er Jahre in der deutschen Regionalliga nahm Ende des letzten Jahrtausends sprunghaft an Fahrt auf. Nach nur vier Jahren schaffte er er es in die deutsche Nationalmannschaft, 1998 spielte er in Feldkirch gegen Österreich erstmals mit der deutschen Auswahl auf internationalem Parkett (wie übrigens auch sein langjähriger Weggefährte Thiele). «Da waren alles gestandene German-Football-League-Spieler dabei. Ich wurde quasi ins kalte Wasser geworfen. Den Speed und die Härte auf diesem Level waren völlig neu für mich, ich war ja noch ein Küken.»

«Mir wurde klar, dass ich arbeiten musste. Viel arbeiten.»

Er erinnert sich daran, wie damals Werner Hippler, einer der ersten deutschen Spieler in der NFL, in voller Detroit-Lions-Montur im Training aufmarschierte. Oder an den ersten Pass Rush im Training eines Hamburg-Blue-Devils-Spielers, der ihn wie ein Blitz umlief. «Mir wurde schlagartig klar, dass ich arbeiten musste, um zum Einsatz zu kommen. Viel arbeiten. Ich habe seither immer alles dafür getan, um spielen zu können. Ich war am Vormittag der Erste, der auf dem Trainingsfeld stand und abends der Letzte, der es verliess», so Mathes.

«Never die easy», die Aussage der NFL-Legende Walter Payton verinnerlichte der Mathes damals – und auch noch heute ist dies sein Leitspruch auf dem Football-Feld.

 

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Ein Jahr später, 1999, besuchte Mathes erstmals die USA, als er – wie er sich erinnert – aus einer Shopping Mall seine Mutter in Deutschland anrief und aus dem Nichts die unerwartete Botschaft erhielt: «Es sind die Frankfurt Galaxy! Du bist an 11. Stelle gezogen worden!» Die Galaxy – das war eine der grossen Marken der damaligen World League (später NFL Europe), die an ihren Heimspielen im Waldstadion über 40’000 Fans anlockte. Und ‚gezogen worden’ hiess: Mathes wurde als National Player für den NFL-Ableger ausgewählt. Dass er als immer noch relativ unerfahrener junger Spieler einen Profi-Vertrag erhalten sollte, war für Mathes schwer vorstellbar: «Ich dachte nur: «Was ist denn jetzt los? Was für eine verrückte Welt!»

Mathes in jungen Jahren im Jersey der Frankfurt Galaxy – viele seiner heutigen Mitspieler und Gegner waren da noch Kinder oder noch nicht einmal geboren.

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Dass er gleich im ersten Jahr mit der Galaxy den World Bowl gewann, ist nur die eine Seite der Geschichte. Die andere ist, was man ihn in der NFL Europe lehrte. «Ich habe damals gelernt, dass die Offense Line ein eigenes Team im Team ist. Ich wurde von den gestandenen Amerikanern an- und aufgenommen und unterstützt. In jeder Lage hielten wir zusammen. Damals wurde mir klar, was es heisst, in der Offense Line zu spielen. Es ist eine ‚Band of Brothers‘», erklärt Mathes die Natur der schweren Jungs im Angriff, «wenns im Angriff nicht funktioniert, ist die Offense Line schuld. Und wenns rund läuft und man punktet ohne Ende, erhalten die anderen den Ruhm. Das muss man als O-Liner verinnerlichen. Wir sind die, die im Schatten wandern.»

Dies sei bei den Broncos nicht anders, nur sei er jetzt der, der die Freundschaft, die Kameradschaft und die Unterstützung innerhalb der Offense Line der Broncos weitergebe. Dieser Zusammenhalt sei es, was er im Profi-Football am meisten von den amerikanischen Offense Linern gelernt habe. 

 

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Nach dem Millennium-Wechsel galt Mathes über Jahre hinweg als bester linker Tackle, wenn nicht gar als bester Offense Lineman überhaupt, in ganz Europa. Sowohl in der German Football League wie auch in der NFL Europe war er Stammgast, 2004 holte er mit den damals neu gegründeten Berlin Thunder seinen zweiten World-Bowl-Titel.

«Das war eine ganz harte Schule», erinnert sich Mathes, «Berlin hatte vom Navy-College-Team den Headcoach Rick Lantz engagiert, der uns jeden Tag in voller Footballmontur trainieren und uns jeden Montag unzählige Längen an Sprints rennen liess. Ich war in der Form meines Lebens!» 

Diese Top-Form nahm er im folgenden Jahr in die German Football League mit, wo er nach zehn Jahren und einigen verlorenen Final-Teilnahmen mit den Braunschweig Lions endlich auch seine erste persönliche deutsche Meisterschaft gewann.

In der deutschen Nationalmannschaft war Mathes längst eine feste Grösse: So wurde er 2001 mit Deutschland Europameister, gewann 2003 mit der deutschen Auswahl Bronze an den American-Football-WM und holte sich mit der Nationalmannschaft bei den World Games 2005 in Duisburg den ersten Platz. 

 

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Ende Mai 2008 bekam er vom damaligen deutschen Bundesminister des Innern, Wolfgang Schäuble, das Silberne Lorbeerblatt verliehen, die höchste Auszeichnung für Sportler in Deutschland. «Weil wir viele Jahre mit der Nationalmannschaft viele Titel gewonnen haben», sagt er lapidar. 

Zählen tut er seine unzähligen Titel und Ehrungen schon lange nicht mehr. «Früher hatte ich mal einen Trophäenschrank, irgendwann fand ich das dann aber einfach doof. Ich will mich nicht auf meine Erfolge reduzieren. Klar, hatte ich viel dafür getan, aber bei jedem Erfolg war auch immer Glück dabei. Ich bin nicht einer, der ständig seine Ringe zeigen muss», so Mathes, dessen Siegeshunger durch die Erfolge sowieso nicht zu stillen war. 

«Ich will mich nicht auf meine Erfolge reduzieren»

«Ich habe einfach einen unbändigen Willen zu spielen», versucht er sein Feuer für den Football-Sport zu erklären, «ich mache gern Teamsport, bin gern mit Leuten zusammen und mag es, wenn Menschen in meinem Umfeld ein gutes Gefühl haben. Das motiviert mich. Sicher bin ich auch extrem kompetitiv und will immer gewinnen. Gerade in der NFL Europe habe ich in frühen Jahren gelernt, immer um eine Position kämpfen.» 

 

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Und so ist es auch nicht überraschend, dass die Erfolge auch in der Folge nicht abrissen: 2009 wurde er mit den Berlin Adler deutscher Meister, im Jahr darauf holte er sich mit Berlin in einem Herzschlagfinale gegen die Vienna Vikings erstmals den Eurobowl, die Champions League im American Football. Für den Schlosser war dies eines der wichtigsten Erfolgserlebnisse in seiner Karriere überhaupt. «Ich hatte zuvor einen Wadenbeinbruch erlitten und sehr viel dafür getan, wieder zurückzukommen», erinnert er sich über den harten Weg zurück. Zehn Wochen nach dem Bruch war der knapp 150 kg schwere Mathes wieder im Lineup der Adler gestanden. Und im selben Jahr gewann er mit der deutschen Nationalmannschaft zum zweiten Mal EM-Gold. Mit 35 Jahren wäre das eigentlich für die meisten Sportler der perfekte Abschluss einer grandiosen Karriere gewesen. 

Nicht so für Mathes. 

Denn – so unglaublich es tönen mag -, das bisher längste Kapitel in André Mathes Karriere stand erst noch bevor.

 

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«2010 hatten wir den GFL-Final mit Berlin Adler verloren. Mein Teamkollege und guter Freund Daniel Keil wollte weg aus Berlin und fragte mich nach meinem Interesse, ihn zu begleiten. Es gäbe da einen Verein in der Schweiz, der suche europäische Offense-Line-Spieler», so Mathes, der von dem im Vorjahr in Calanda Broncos umgetauften Verein – im Gegensatz zum Dresdener Keil – noch nie gehört hatte.

«Ich war zuerst nicht wirklich beeindruckt von den Broncos»

«Ich ging dann mal auf die Webseite und war ehrlich gesagt nicht wirklich beeindruckt. Und die Farben dieser Broncos gefielen mir auch nicht. Eigentlich wollte ich sowieso eher nach Innsbruck, wohin meine damaligen Berlin-Coaches Shuan Fatah und Lee Rowland von Berlin wechselten. Das wäre eigentlich meine Traumstation gewesen, aber es hat nie funktioniert.

So habe ich mir halt gedacht: ‚Ja gut, wenn ich nicht bei den Raiders spielen kann, dann vielleicht im Eurobowl gegen sie…‘» 

 

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So kam der Mainzer 2011 zu den Broncos – gerade, als der unglaubliche Erfolgszug der Bündner so richtig Fahrt aufnahm. Mit den Bündnern und einer ‚tollen, eingeschworenenen Truppe in der Offense Line‘ holte er 2012 seinen zweiten Eurobowl-Sieg. Und als die Ära des grosszügigen Präsidenten Walter Tribolet Jr. 2014 endgültig endete und alle Imports gegangen waren – blieb Mathes. «Schon als ich das erste Mal an der Ringstrasse auf dem Feld gestanden war, mich 360 Grad umschaute und all die Berge um mich herum sah, war’s das für mich», so Mathes zu seiner innigen Bindung zu Calanda, wo er schon lange Publikumsliebling und Klublegende in einem ist.

Einer von vielen: André Mathes mit dem Meisterpokal 2017.

 

Die einzigartige Bergkulisse war aber natürlich nicht der einzige Grund, dass Mathes seit zehn Jahren während der Saison jeweils freitags nach Graubünden fährt, um abends mit dem Team zu trainieren und am Wochenende auf den Schweizer Footballfeldern zu kämpfen: Die Rückkehr von Headcoach Geoff Buffum zu den Broncos 2015, der die Star-Truppe drei Jahre zuvor bei seinem bisherigen einjährigen Gastspiel zum Eurobowl-Sieg geführt hatte, war ebenfalls ein wesentlicher Faktor, die Broncos gegenüber anderen Angeboten von nah und fern zu bevorzugen. «Buffum ist der einzige Coach, den ich kenne, der in der Halbzeit wenn nötig eine Taktik völlig umstellen kann, damit es nachher gut läuft. Er hat immer eine Antwort auf jedes Problem», windet er seinem Coach ein Kränzchen, «er macht es auch sehr geschickt, Spieler zu bringen, sie einzusetzen und aufzubauen. Er hat einen sehr grosser Anteil am ganzen Erfolg der Broncos.»

«Buffum kennt auf jedes Problem eine Antwort»

Nicht nur Buffum, auch die Familie Zinsli mit Vizepräsident Daniel und seiner umtriebigen Frau Romy hätten entscheidenden Anteil daran, dass er so lange beim Bündner Footballklub geblieben sei. An den Wochenenden übernachtet Mathes jeweils bei der Familie der Broncos-Manager, und in all den Jahren sei eine tiefe Verbindung zueinander entstanden: «Ich habe miterlebt, wie ihre Kinder aufgewachsen sind.» Und so seien halt 10 Jahre ins Land gezogen, etwas, was er sich zuvor nie hätte vorstellen können. 

 

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Nun steht am Samstag ein weiteres grosses Spiel für den 46-Jährigen bevor. Das letzte wird es allerdings auch diesmal nicht sein – ein Rücktritt ist kein Thema mehr. «Ich bin dazu verdammt, Sport zu treiben, weil ich sonst nicht leben kann», sagt er und spricht auf seine Körpermasse an. In Zeiten, in denen Athleten diverser Sportarten bis weit in die 40er hinein auf höchstem Niveau spielen, ist auch Mathes überzeugt, noch einige Zeit weiterspielen zu können.

«Wenn du am Wochenende spielst, hast du nachher fünf Tage Zeit, die du nutzen musst bis zum nächsten Spiel, dass du wieder spielen kannst», so die Devise des Tackles, der immer montags nach den Spielen bei einem Kollegen in die Physio geht. Dieser stelle jeweils die Weichen fürs Gesunden in einer Saison, die im Football immer ein Abnützungskampf bedeutet.

«Fünf Tage Zeit, die du nutzen musst bis zum nächsten Spiel»

Das Alter merke er zwar schon, aber die Technik und die Erfahrung mache vieles wett, so Mathes: «Ich bin nicht mehr so flexibel, dass ich beispielsweise auf den rechten Tackle wechseln könnte. Der Stance, die Schritte, die Techniken und der Körper als linker Tackle sind aber schon lange tief in mir drin. Ich will dem Spiel so lange zurückgeben, wie ich kann. Das ist auch eine Art Dankbarkeit, so lange dabei zu sein. Ich will mein Erbe weitergeben.»

Die Broncos Offense Line mit André Mathes (hinten r.) und Offense Line Coach Bastian Nau.

Erben, das sollen vor allem seine Mitspieler, seine Offense Line-Unit. «Wir sind 5 neue und 5 alte Spieler, ein ‚geiler Haufen‘, bei dem jeder diese Saison schon Spielzeit erhalten und gute Leistungen abgerufen hat», so Mathes über seine neun Teamkollegen in der O-Line, die insgesamt stolze 1200 Kilogramm auf die Waage bringen.

Der Hauptverdienst für die seit Jahren überragende Offense Line gebühre Line-Coach Bastian Nau: «Da gibts gar keine Diskussion, die O-Line Spieler werden sehr gut ausgebildet. Coach Nau hat immer eine Riesengeduld mit uns, selbst dann, wenn wir mal Mist bauen oder im Training einen Scherz zu viel machen.» 

 

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Vor dem Swiss Bowl XXXV gegen Bern hat Mathes durchaus Respekt. Ein Spiel auf Messers Schneide wird erwartet, bei Fans und Experten ist das Duell zwischen der Broncos-Offense-Line und der hochkarätigen Grizzlies-Defense-Line eines der Highlights des Spiels. «Bern hat generell eine ziemlich gute Defense», zuckt Mathes mit den Schultern, «aber wir haben die letzten drei Wochen gut trainiert und gespielt. Wir werden auf jeden Fall mit Feuer in den Haaren rauskommen und alles dafür tun, uns an der Offense Line zu behaupten.»

«Alles zählt: Offense, Defense, Special Teams»

Prognosen will Mathes verständlicherweise keine abgeben. Er weiss nur zu gut, dass Sieg und Niederlage nahe beieinander liegen und gerade in Endspielen oft Details den Unterschied ausmachen. «Alles zählt: Offense, Defense, Special Teams», freut sich Mathes auf das grosse Spiel, das um 18 Uhr im Stadion Rankhof in Basel beginnt, «jeder muss den unbändigen Willen zu gewinnen aufs Spielfeld bringen.»

Und fügt abschliessend hinzu: «Never die easy…»

 

Update: Die Calanda Broncos haben den Swiss Bowl XXXV mit 21:12 gewonnen. Den Spielbericht gibts hier.

 

Info

GRHeute ist Medienpartner der Calanda Broncos.

 

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author

Mathias Braendli

Redaktor Region/Sport
Marketeer, Ex-Journalist und Football-Blogger. Sound: Adam Green, Ryder the Eagle, Bob Dylan, Helloween. TV: Better Call Saul, Game of Thrones, Sport. Buch: Fall & Rise von Mitchell Zuckoff.