«Ohne Gegenmassnahmen fehlt Graubünden bis 2040 jeder 5. Arbeitnehmer»

«Ohne Gegenmassnahmen fehlt Graubünden bis 2040 jeder 5. Arbeitnehmer»

GRHeute
12.10.2022

Die Analyse des Wirtschaftsforums Graubünden zeigt, dass der Personal- und Fachkräftemangel in den kommenden 20 Jahren Graubünden hart treffen könnte: Wenn die Baby-Boomer-Generation in den kommenden Jahren in Pension geht, fällt bis 2040 jeder fünfte Arbeitnehmende weg. Die Bündner Wirtschaft und Politik müssen Massnahmen ergreifen, um zusätzliche Arbeitskräfte zu gewinnen und sich darauf einrichten, mit weniger Personal auszukommen.

Schon in den nächsten Jahren wird sich der Personalmangel gemäss einer Studie des Wirtschaftsforums Graubünden deutlich akzentuieren. Umset- zungsmassnahmen müssen daher sofort eingeleitet werden, ansonsten droht dem Wirtschaftswachstum des Kantons ein deutlicher Dämpfer. Das Wirtschaftsforum Graubünden hat mit der Studie «Personal- und Fachkräftemangel Graubünden: Perspektiven 2040 und Massnahmenvorschläge» die Situation analysiert und stellt rund 30 Massnahmen gegen die drohende Personallücke vor.

Breiter Personal- und Fachkräftemangel erwartet

Bisher wurde im politischen Diskurs vor allem der Begriff «Fachkräftemangel» benutzt und damit hochqualifizierte Spezialisten adressiert. Künftig muss Graubünden aber, genau wie die übrige Schweiz, von einem breiten, strukturellen Arbeitskräftemangel ausgehen. Die Dachorganisationen der Wirtschaft Graubünden konnten in einer Umfrage im Januar 2022 erstmals zeigen, dass bereits heute die Besetzung von Arbeitsstellen auf allen Qualifikationsstufen und in allen Branchen Schwierigkeiten bereitet.

«Allein aufgrund der demografischen Verschiebungen werden dem Arbeitsmarkt 24’000 Personen fehlen.»

Der Hauptgrund dafür liegt in der unausgeglichenen Bevölkerungsstruktur: Seit einigen Jahren ist die Zahl der 65-Jährigen höher als jene der 20-Jährigen. Diese Dynamik wird in den kommenden Jahren aufgrund der geburtenstarken Baby-Boomer-Generation, die heute kurz vor der Pension steht, deutlich verstärkt. In den nächsten 20 Jahren werden in Graubünden rund 59’000 Personen das Rentenalter erreichen und aus dem Arbeitsmarkt austreten. Gleichzeitig werden nur 35’000 junge Nachwuchskräfte ins Erwerbsleben einsteigen. Allein aufgrund der demografischen Verschiebungen werden dem Arbeitsmarkt also 24’000 Personen weniger zur Verfügung stehen.

Florierende Bündner Wirtschaft braucht mehr – nicht weniger – Arbeitskräfte

Natürlich wirkt nicht nur die Bevölkerungsstruktur auf den künftigen Personal- und Fachkräftemangel ein. Auch die Zuwanderung von Arbeitskräften, die Pendler und die Höhe der Erwerbsbeteiligung der einheimischen Bevölkerung beeinflussen, wie gross die Personallücke künftig sein wird. Von einem mittleren Wachstum der Bündner Wirtschaft und einer jährlichen Produktivitätssteigerung von rund 1% ausgehend, benötigt die Bündner Wirtschaft 2040 rund 123’000 Vollzeitäquivalente.

«Uns fehlen bald schlichtweg die Menschen, um so weiter zu wirtschaften wie bisher.»

Bevölkerungsentwicklung, Pendler, Migration sowie eine leicht höhere Erwerbsbeteiligung der einheimischen Bevölkerung mitgerechnet, könnten 2040 in Graubünden bis zu 30’000 Vollzeitstellen nicht besetzt werden. Ohne Gegenmassnahmen führt dieser Umstand zu einem geringeren oder sogar rückläufigen Wirtschaftswachstum. «Die Dimensionen des prognostizierten Personalmangels müssen uns zu denken geben. Uns fehlen bald schlichtweg die Menschen, um so weiter zu wirtschaften wie bisher», meint Brigitte Küng, Co-Geschäftsführerin des Wirtschaftsforums Graubünden.

Wundermittel Zuwanderung

Wichtige Branchen im Kanton, wie etwa der Tourismus, die Bauwirtschaft und das Gesundheitswesen, sind stark von ausländischen Arbeitskräften abhängig. In dieser Situation alleine auf die Zuwanderung aus dem Ausland zu hoffen, wäre trotz dem hohen Lohnniveau und dem guten Ruf der Schweiz riskant: Die Bevölkerungsstruktur in Europa ähnelt der unseren und das Angebot an Arbeitskräften wird daher in der europäischen Nachbarschaft ebenfalls abnehmen.

Ist die Schweiz nicht gewillt, ihre Migrationspolitik im Bereich von Drittstaaten ausserhalb der EU/EFTA zu öffnen, so wird Graubünden die benötigten Arbeitskräfte vermehrt in der Schweiz suchen müssen. Die eigene Bevölkerung, die Zweitheimischen und potenzielle Pendler, Grenzgänger und Zuzüger stehen stärker im Fokus.

Rund 30 Massnahmen zur Diskussion gestellt

Der strukturelle Personal- und Fachkräftemangel wird sich in den kommenden Jahren schnell akzentuieren. Bündner Arbeitsgeber müssen mit härteren Bandagen um Personal kämpfen. Die Löhne werden tendenziell steigen, ebenso die Rekrutierungskosten. Graubünden startet in diesen sich verschärfenden Arbeitsmarktwettbewerb nicht gerade in der Pole Position: Der Kanton – und besonders die Täler in der Peripherie – gehören zu den Abwanderungsregionen mit unterdurchschnittlicher Wirtschaftsdynamik.

«Das Thema Personal- und Fachkräftemangel verdient hohe Priorität»

«Umso mehr müssen wir jetzt tätig werden. Das Thema Personal- und Fachkräftemangel verdient auf der politischen Agenda des Kantons und in den Unternehmensstrategien eine hohe Priorität», unterstreicht Daniel Fust, Präsident des Wirtschaftsforums Graubünden. Die Denkwerkstatt stellt in ihrem Bericht rund 30 Massnahmen zur Diskussion, die ergriffen werden können.

Dem Arbeitsmarkt Graubünden stehen zwei grundsätzliche Stossrichtungen zur Verfügung: Einerseits können Massnahmen umgesetzt werden, die das Arbeitskräfteangebot erhöhen. Andererseits können Massnahmen zur Produktivitätssteigerung ergriffen werden, die den Bedarf an Personal bei gleichbleibender Wirtschaftsleistung verringern.

Mehr Arbeitskräfte für Graubünden gewinnen

  • Erstens können Massnahmen zu einer Entschärfung der Situation führen, welche auf die freiwillige Weiterarbeit der Baby-Boomer-Generation nach dem 65. Altersjahr abzielen. Die ältere Generation, die in den nächsten 20 Jahren ins Rentenalter eintritt, muss motiviert werden, dem Arbeitsmarkt über das offizielle Rentenalter hinaus, zumindest teilweise, zur Verfügung zu stehen. Bedürfnisgerechte Arbeitsmodelle 55+ und finanzielle Anreize können dazu beitragen.
  • Zweitens muss eine möglichst hohe und lückenlose Erwerbstätigkeit der Bündnerinnen und Bündner angestrebt werden. Dazu müssen Unternehmen die Bedürfnisse der Generation Z ernst nehmen und Führungsstrukturen und Arbeitszeitmodelle umgestalten, um ihre Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Dazu benötigen sie eine Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes und der Gesamtarbeitsverträge entlang den Bedürfnissen der Mitarbeitenden. Angebote, die der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dienen, müssen vermehrt als Service Public verstanden werden. Die Subventionierung der externen Kinderbetreuungsangebote muss aber mit einer Erwerbstätigkeit verknüpft sein.
  • Drittens müssen die Möglichkeiten zur Gewinnung von ausländischen Arbeitskräften ausgeschöpft und wenn möglich ausgebaut werden. Und viertens muss Graubünden seinen Trumpf als Wohn- und Lebensraum mit hoher Freizeitqualität konsequenter ausspielen, der ein grosses Differenzierungsmerkmal gegenüber den Metropolitanräumen der Schweiz und ein Magnet für ausländische Arbeitskräfte dar- stellt. Dazu müssen alle Wohnstandortfaktoren gestärkt werden. Besonders im Fokus steht die Verfügbarkeit von preiswertem Wohnraum sowie die Weiterentwicklung der Freizeitangebote.

Produktivität steigern, Arbeitskräftebedarf senken

Gleichzeitig muss Graubünden auch Massnahmen ergreifen, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und den Arbeitskräftebedarf potenziell zu verringern. Geschäftsmodelle und Angebotspaletten müssen gestrafft und Prozesse personaleffizienter gestaltet werden. Dabei stehen Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung und Automatisierung im Fokus.

Nicht nur Unternehmen sind hierbei gefordert, sondern auch die Verwaltung, die mit E- Government-Massnahmen zu effizienteren Abläufen und Personaleinsparungen beitragen kann. Während solche Massnahmen bisher vor allem unter dem Kostenaspekt diskutiert wurden, so sind sie in Zukunft unter dem Aspekt der Personaleffizienz zu betrachten.

 

Die ibW hat «erhebliche regionalwirtschaftliche Bedeutung»

 

(Symbolbild: GRHeute)

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