«Schmetterlinge im Bauch»

«Schmetterlinge im Bauch»

Als im Frühjahr 2019 das Telefon klingelte, zögerte Max Gray, ob er es überhaupt abnehmen sollte. «Das war eine ‚crazy‘ Nummer. Sie fing mit +41 an, was ich noch nie gesehen hatte». Dass Max Gray sich doch dazu entschied, den Anruf entgegen zu nehmen, sollte sein Leben – zumindest für die kommenden Jahre – verändern. Am anderen Ende der Leitung, Tausende Kilometer entfernt mit dem atlantischen Ozean dazwischen, war ein unbekannter Mann, der in den Bündner Bergen sass und den jungen Mann aus den USA für ein Engagement in der Schweizer Football-Liga gewinnen wollte: Calanda-Broncos-Headcoach Geoff Buffum.

Gray rief seine Mutter an, die ihm eindringlich nahelegte, das Angebot anzunehmen, «zumindest wenn der Flug bezahlt sei.» Sie selbst hatte schon viele Jahre den unerfüllten Wunsch, Europa zu besuchen, die Chance für ihren Sohn schien der Familie buchstäblich in den Schoss zu fallen. Max Gray sagte zu, flog zwei Wochen später nach Chur – und der Rest ist Geschichte. 

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Da die Broncos mit Quarterback Conner Manning bereits einen US-Import im Angriff hatten, startete Gray in Chur zuerst als Safety in der Defense, da in der Schweizer Meisterschaft jeweils nur ein US-Import aufs Mal auf dem Feld stehen darf. Der Wechsel in die Verteidigung war aber noch das kleinste Problem für jungen Athleten. «Das erste, was mich in Chur verblüffte, ist, dass die Leute einfach über die Strasse laufen. Sie wissen, dass die Autos anhalten», erinnert sich Gray an seine ersten Wochen in Chur, «und es war ein Schock, irgendetwas zu finden. Dass man alles ohne Auto erledigen kann, war für mich völlig neu. Ich war zuvor noch nie Zug oder Bus gefahren und habe mich darum auch immer wieder verlaufen.» 

Auch wenn er heute darüber lacht, lustig waren diese ersten Woche in Chur nicht. «Die Leute waren zwar alle sehr herzlich, aber ich wurde auch beäugt. Man wollte sehen, ob ich erstens gut in Football und zweitens gut als Person bin.» Dass die Schweizerinnen und Schweizer eher reserviert sind und nicht wie in den USA «alle jederzeit miteinander kommunizieren», habe die Sache nicht erleichtert. «Ich muss zugeben, die ersten beiden Wochen haben mir nicht gefallen. Ich verstand nichts, fühlte mich durch den ‚Swiss stare’ beobachtet. Ich musste zuerst verstehen lernen, wie was in der Schweiz funktioniert.» 

Sein Landsmann Manning, der über die Jahre zu einem Freund für Gray wurde, habe ihm in den Anfangswochen viel geholfen. Auch im Training sei er zu jedem Zeitpunkt superhart eingestiegen, weil er sich beweisen wollte: «Am Ende war dies ja der Grund, warum ich zusagte. Ich kam hierher um zu gewinnen und um Spass zu haben mit meinen neuen Teamkameraden.»

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Seine erste Saison bei den Broncos hatte prägenden Einfluss auf Gray – auf und neben dem Feld. Langsam fühlte er sich wohler in Graubünden und begann, sich an den Möglichkeiten zu erfreuen. «Die Schweiz ist die perfekte ‚Homebase‘ in Europa. Man kann den ganzen Kontinent bereisen und immer wieder in das super organisierte, saubere und sichere Zuhause zurückkehren», so Gray, der in den letzten Jahren an spielfreien Wochenenden und nach den Saisons unzählige europäische Städte und Regionen besucht hat: «Mich fasziniert die Vielzahl an Kulturen.» Was er an den USA vermisst, ist in Europa das Essen. «Klar, es schmeckt alles gut hier, ist gesund und ausgewogen. Aber manchmal könnte alles noch mehr Geschmack haben. Ist mir schon klar, dass die Inhaltsstoffe vielleicht nicht so gesund ist, aber ich stehe dazu: Ich liebe es , dass das Essen in den USA halt einfach mehr, noch mehr ‹Flavour› hat», lacht Gray, der dieses Bedürfnis gerne dann und wann mit einem Besuch im McDonalds stillt.

Max Gray: Touchdown-Garant nach Anlaufschwierigkeiten.

 

Schon in den USA hatte Gray einiges gesehen, nicht zuletzt durch sein Lehrer-Studium. Geboren und aufgewachsen in Arlington im Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA verliess er seinen Wohnort schon in jungen Jahren, um am Chadron State in Nebraska und am Rocky Mountain College in Montana zu studieren – und um Football zu spielen. Auch nach der Saison 2024 wird er wieder reisen – diesmal mit seinem dänischen Teamkollegen Philipp Holm, der ihm unter anderem «sein» Kopenhagen zeigen wird.

Doch zuvor stehen im kommenden Monat – angefangen beim Europacup-Final vom Samstag vor eigenem Publikum gegen die Danube Dragons aus Wien – die grossen sportlichen Herausforderungen des Jahres bevor…

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Nochmals zurück zu 2019, als Gray als Notnagel nach Chur geholt wurde. Das Jahr endete für die Broncos zwar mit dem Schweizer Titel. Broncos-Fans erinnern sich aber gleichzeitig ans bittere Europacup-Endspiel gegen die Tirol Raiders, als ein kapitaler Fehlentscheid der Schiedsrichtercrew in den letzten zwei Spielminuten den Broncos sprichwörtlich den Titel raubte. «Das war die bitterste Niederlage in meinem ganzen Leben, sie nagt auch heute immer noch an mir», erinnert sich Gray ungern an die entscheidenden Momente zurück, als die Refs einen Passfang der Broncos – nach dem die Bündner die Zeit in Führung liegend hätten herunterlaufen lassen können – aberkannten und dem Gegner somit Zeit gaben, das Spiel noch zu wenden, «ich bin immer noch wütend und enttäuscht deswegen. Ich werde am Samstag auf jeden Fall alles für dieses Team und für die Stadt Chur geben.»

Hundertprozentig fokussiert.

 

Am Samstag – dann erhalten die Broncos wieder eine Chance auf den europäischen Champions-League-Titel. Nach Siegen gegen den dänischen Meister Kopenhagen, den italienischen Champion Parma und dem Titelverteidiger aus Paris haben sich die Bündner wieder für das Finale qualifiziert. Und wieder ist der österreichische Meister der Gegner – diesmal die Danube Dragons aus Wien mit ihrem Superstar-Running Back Madre London. 

«Ich bin immer nervös vor grossen Spielen – im positiven Sinn», erklärt Gray, der schon lange eine persönliche Routine entwickelt hat, wie er sich auf Ernstkämpfe vorbereitet: «Ich laufe viel in den Tagen vor dem Spiel, oft auch zum Stadion, höre Musik und visualisiere jeden Spielzug, jeden Passfang, jeden Return, immer und immer wieder. So kommt es mir am Spiel oft vor, dass ich alles schon erlebt habe. Wenn ich mich nicht so vorbereiten würde, wäre ich sehr gestresst vor einem Spiel.»

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Gray weiss, wovon er spricht. Mittlerweile ist er 28 Jahre alt, seit 2019 ist er – unterbrochen von der abgesagten Corona-Saison 2020 – jedes Jahr wieder zu den Broncos zurückgekommen: «Es ist verrückt, dass ich nun länger in Chur bin als ich es in der High School oder im College war.» Auf den Footballfeldern ist Gray, der in den letzten beiden Saisons auf seine Stammposition im Angriff zurückgekehrt ist, längst zum Schreck für gegnerische Verteidigungen geworden. 

Neben spektakulären Touchdowns als Runner, Catcher oder Returner sind auch seine nicht ungefährlichen «Hurdles», mit denen er Gegenspieler überspringt, legendär geworden. «Coach Buffum sagt mir zwar immer wieder, ich solle es ‚easy‘ nehmen», lacht er, «aber ich plane diese Sprünge nicht. Das sind Reaktionen und Entscheidungen in letzter Sekunde. Sonst funktioniert das nicht.» Der Ursprung liege in seinem unbändigen Willen zu gewinnen, in einem unbedingten Verlangen, einen «Play» zu machen, Einfluss in wichtigen Spielsituationen zu nehmen. 

Max Gray «hurdlet» einen Gegenspieler.

 

«Er ist einer der besten Importspieler, mit denen ich je zusammenarbeiten durfte», sagt Broncos-Headcoach Geoff Buffum kurz und knapp. «Max lebt seine Rolle bei den Broncos und motiviert das Team mit grossen Spielzügen in den entscheidenden Momenten.» Der Athlet gibt die Komplimente an seinen Coach zurück. «Buffum ist ein unglaublich intelligenter Coach. Er hat ein grosses Gespür dafür, Spieler in Situationen zu bringen, in denen sie sich wohl fühlen und er bleibt in schwierigen Situationen ruhig und besonnen.»

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Das Team schaue gut aus vor dem grossen Spiel am Samstag, so Gray: «Natürlich haben wir alle Schmetterlinge im Bauch. Aber der Gameplan, die Vorbereitung und der Glauben ist da, um unser bestes Spiel zeigen zu können.» Der Schlüssel sei wie immer in grossen Spielen die Verteidigung, in der Defense Coordinator Alonso Espinosa «einen grossartigen Job macht». Die Broncos-Defense, die im Halbfinal Paris auswärts «ausshuttete», sei ein Haufen einzigartiger Charaktere, die gut miteinander kommuniziere und sich vertraue, so Gray. Ein gutes Spiel gegen die potente Wiener Offense um Running Back Madre London und den österreichischen Nationalmannschafts-Quarterback Alex Thury wird sicher auch am Samstag nötig sein, um die Broncos im Spiel zu halten. 

«Im Angriff müssen wir versuchen, den Ball zu beschützen und First Downs zu erzielen», so Gray und betont die Special Teams, die in entscheidenden Spielen oft für einen Momentum Swing sorgten. Dass er sich selbst als Returner dabei mit-meint, liegt auf der Hand. «Ich hoffe, ich kann mit einem guten Lauf Wirkung erzielen», sagt Gray, und zwinkert, «visualisiert habe ich die möglichen Returns bereits alle…»

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Als Gray vor fünf Jahren erstmals nach Europa, in die Schweiz und nach Chur kam, konnte er sich eine solche «Reise» natürlich nicht vorstellen. Träume von der NFL oder anderen Football-Profiligen hat er nicht mehr wirklich. «Ich hatte und habe auch immer noch Gelegenheiten, aber ich mag es hier einfach. Ich geniess es, unter der Führung von Coach Buffum zu spielen. Ich habe Freunde in Chur, eigentlich schon mehr als das, eine Familie. Wieso sollte ich das verlassen wollen?»

 

Auch den Football in Europa hat er lieben gelernt. «Das ist Football, wie es ursprünglich gedacht war, wie man es spielen muss», meint er. In den USA sei der Leistungsgedanke bereits im Jugendalter derart gross, dass es für viele oft nur noch um Scholarships und ihre eigene Karriere ginge. «Hier gehts ums Team, ums Gewinnen und um Spass zu haben. Keiner spielt bei den Broncos, weil er darauf zielt, in einem anderen Team gross rauszukommen.»

 

Dieses Umfeld, dass sich die Spieler im Verein und im Team wohlfühlen, basiere auf den Werten der Organisation und der Führung durch Coach Buffum, ist Gray überzeugt: «Das ist für mich der Grund für den Erfolg der Broncos.» 

Das sei schon immer so gewesen, seit er hier sei. «2019 waren wir die ‚Rex-Mahrer-Gruppe‘. Es hatte so viele Persönlichkeiten in diesem Team. Alles Leadertypen und grossartige Spieler, die mich geprägt haben», vergleicht er die Broncos-Mannschaften der letzten Jahre, mit denen er die die Schweizer Titel 2019, 2021 und 2023 gewonnen hat, «heute ist das Team deutlich jünger. Die Jungen haben ihren ganz eigenen Charakter, sie sind hungrig, stehen sehr eng zusammen und trainieren hart, um sich als Spieler und Leadertypen weiterzuentwickeln.»

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Saisons wie dieses Jahr hätten auf jeden Fall prägenden Charakter. Seit dem 6. April haben die Broncos jedes Wochenende ein Spiel bestritten. Sollten sie in zweieinhalb Wochen auch den Halbfinal in der Schweizer Liga überstehen, würden die Bündner bis Mitte Juli durchgehend gespielt haben – in sage und schreibe 15 Spielen in Serie. «Ich glaube, kein Team auf der ganzen Welt hat eine solche Serie ohne ein spielfreies Wochenende, das war – und ist – schon extrem schwierig», so Gray, der fast immer zum Einsatz kam, «Coach Buffum muss das Team effizient managen, wir mussten smart sein. Es war und es ist hart, aber es hat auch dazu geführt, dass wir die ganze Zeit über fokussiert blieben.»

Fokussiert bleiben, das müssen die Broncos nun noch vier weitere Wochenende: Nach dem Highlight am Samstag im Europacup folgt das letzte Regular-Season-Spiel gegen Zürich, dann der Halbfinal und Mitte Juli – sofern sich die Broncos zum 16. (!) Mal in Serie dafür qualifizieren – der Swiss Bowl in Grenchen. Unter den Zuschauern werden dann auch Max Grays Eltern sein, die nach Europa reisen, um ihren Sohn in der entscheidenden Schweizer Meisterschaftsphase zu besuchen. 

Max Gray will «die Stadt Chur stolz machen».

 

Was danach kommt, weiss Max Gray heute noch nicht. «Ich kann derzeit nur an den Samstag denken, nicht an die Schweizer Meisterschaft und auch nicht an die Playoffs. Das Einzige, was ich von der Zeit nach der Saison heute weiss, ist, dass wir im Sommer wieder Europa bereisen…»

 

CEFL Bowl 2024

Das grosse Endspiel um den CEFL Bowl 2024 findet diesen Samstagabend um 19 Uhr im Stadion Obere Au in Chur statt. Die Sitzplatztribüne für den Event war innert vier Stunden ausverkauft, Stehplätze sind noch verfügbar (hier). Das Spiel wird auch per Livestream online übertragen, die GRHeute-Football-Spezialisten Mathias Brändli und Experte Robin Haas werden das Spiel kommentieren.

 

(Bilder: GRHeute/Sergio Brunetti/stockpix.it)

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Mathias Braendli

Redaktor Region/Sport
Marketeer, Ex-Journalist und Football-Blogger. Sound: Adam Green, Ryder the Eagle, Bob Dylan, Helloween. TV: Better Call Saul, Game of Thrones, Sport. Buch: Fall & Rise von Mitchell Zuckoff.