Der See schwappt vor sich her, düngergesättigt und etwas schal. Betriebsamkeit im Dorf. Pater Fernando treibt gutbeleibt auf einem Piaggodreirad mit seinesgleichen einen triefäugigen Holzjesus durch die engen Gassen, ein Dutzend Fahnenträger stiefeln hinterher. Der schmalbrüstige Messdiener spritzt das Weihwasser den Martini trinkenden Damen grad vor die tätowierten Füsse; im Moment, da sich unsere Blicke treffen, verschwindet sein fieses Lächeln blitzartig hinter der frömmelnden Maskerade. Einer hupt. Sonntagabend in Passigiano sul Trasimeno, im Herzen Italiens. Juliheiss. In einigen Stunden werden abertausende von Mücken tot vom dunkelblauen Himmel fallen – ob die Katholenprozession etwas damit zu tun hat, ich weiss es nicht, weiss nur: Nach dreiwöchiger Suche nach einem Ort, an dem sich italienische Gastfreundschaft, etwas Historie, die einfache Küche des Landes und der Moment an sich auf einen Punkt hin verdichten, werde ich endlich fündig: bei Rama in der l’Osteria Da Liam an der Piazza Giovanni Garibaldi Numero 1.
An der Stirnseite des Platzes steht das Restaurant des jungen Gastrounternehmers. Es ist mir am Vorbend schon aufgefallen: frisch restauriert und mit schlichtem Mobiliar ausgestattet, hebt es sich schon rein optisch etwas von den anderen ab. Doch nicht nur das.
Vertriebene aus Norcia
Oktober 2016. Die Seele Italiens bebt, die Kleinstadt Norcia wird nach einer Serie von Erdstössen zerstört, das Bild der eingestürzten Benediktinerkathedrale geht um die Welt. Rama und seine Familie müssen ihr Zuhause verlassen, die Regierung hat es so angeordnet. Sowieso ist ihre Existenz zerstört. Im Rahmen der Nothilfe gelangen sie nach Passignano sul Trasimeno. «Wir wurden hier freundlich aufgenommen. Hier entstand die Idee, uns niederzulassen und von neuem zu beginnen», erzählt Rama. Sein Schwiegervater und er eröffnen um die Ecke «Le Delizie di Norcia», eine Art Feinkostladen und Apérobar, in der die Esskultur ihrer Heimat weiterlebt. Die Geschäfte laufen an, Rama, seine Frau Gessy und der kleine Liam sind in der neuen Heimat angekommen. Sein Bruder und andere Familienmitglieder haben Italien gen Norden verlassen – leben heute in Basel und Aarau.
Weltbeste Tagliatelle
Acht Uhr. Rama nimmt Bestellungen entgegen, die Osteria ist proppenvoll. Er ist Gastgeber, Ober und eine Art agile Schaltstelle in Personalunion; jede Bewegung in der Osteria geht über ihn. Er tänzelt um die Tische und findet für seine Gäste massgeschneiderte Lösungen. Jeder Handgriff sitzt. Den Wein verkauft er flaschenweise und tut das alles in einer ihm eigenen, zurückhaltenden Art. An diesem Abend liegt was in der Luft, neben Weihrauchresten und der kommunalen Musikbeschallung etwas Magie und der Geruch der weltbesten Tagliatelle al Tartufo: Nie habe ich bessere Pasta gegessen. Die Salsiccia mit dem Linseneintopf verrät zudem etwas über Gessy und Antonio in der Küche: Wer sowas so hinkriegt, kann kochen!
«Noi raccontiamo il nostro territorio», sagt Rama und deutet auf den Schriftzug an der weissen Wand; man spürt, was ihm das hier bedeutet. Im April 2020 wollte er eröffnen, dann stand die Welt still. Seit sechs Wochen nun lebt die l’Osteria Da Liam – diese herrliche Schöpfung, die Genesis am Trasimeno!
Das Küchenteam winkt zum Abschied, ich fahre mit dem Velo durch die umbrische Nacht. Überglücklich. Ein Fahnenträger des Santo Corso kreuzt trunken meinen Weg. Bald schon werden die Mücken vom Himmel fallen.
(Bilder: Christian Stalder)