Wie extrem sind die Agrar-Initiativen wirklich?

Wie extrem sind die Agrar-Initiativen wirklich?
Gastkommentar
20.04.2021

Ich bin ein wandelnder Giftcocktail! Jeden Morgen dusche ich mit Formaldeyhd-Duschgel. Es folgt ein Spritzer (natürlich aluminiumfreies) Deo mit künstlichen Moschus-Verbindungen. Und in der kurzen Mittagspause gibt’s eine dreifach verpackte Lunchbox mit einer Extraportion Mikroplastik obendrauf. Überall im Alltag lauert das Gift, wie soll ich da noch meinen Körper gesund halten? Und was sind die Auswirkungen unseres Konsums auf die Umwelt?

Wem können wir noch vertrauen?

Es war an der Migros-Kasse, als ich realisierte, wie wenig Kontrolle wir über unser Essen haben. Ich musste eine Packung indischen Bio-Sesam zurückbringen, weil er Ethylenoxid enthielt. Ethylenoxid erhöht das Krebsrisiko und ist in der Schweiz und der EU verboten. Habe ich mich also mit meinen Sesam-Vollkornbroten selbst vergiftet? Und wieso ist kein Bio drin, wo «Bio» draufsteht? Seit diesem Ereignis ist mein Vertrauen in die Lebensmittelindustrie ziemlich angekratzt. Ich möchte wissen, was in meinem Körper landet und wie es produziert wird!

Zwei wegweisende Initiativen

Am 13. Juni 2021 entscheiden wir, wie sich die Schweiz in Zukunft ernährt. Es geht um die beiden Agrarinitiativen «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» (Pestizidfrei-Initiative) sowie «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz» (Trinkwasserinitiative).

Für diesen Artikel habe ich Interviews mit direkt Betroffenen und dem Präsident der Schwyzer Bio-Bauern geführt. Ziel war es, herausfinden, ob die Agrarinitiativen wirklich so extrem sind, wie ihre Gegner behaupten.

Die Initiativen in Kürze

Der prophylaktische Einsatz von Antibiotika, Pestizide und nicht-einheimisches Futter sind die Hauptanliegen der Trinkwasserinitiative. Sie gibt zu bedenken, dass Mensch und Tier hierzulande zu viel Antibiotika verabreicht wird und so antibiotikaresistente Bakterien entstehen. Im Trinkwasser werden immer mehr Pestizide nachgewiesen. Und der Import von Futtermitteln belastet die Umwelt im Ausland und ist gem. Initianten sogar verantwortlich für die Abholzung von Urwäldern. Importiert werden dürfen nur noch Lebensmittel, die ohne Pestizide hergestellt werden. Auch in der Schweiz müssen Landwirte gänzlich auf Pestizide und nach wie vor auch auf die prophylaktische Behandlung ihrer Tiere mit Antibiotika verzichten, wenn sie weiterhin Direktzahlungen erhalten möchten. Zudem dürfen sie ihre Tiere nur noch mit hofeigenem Futter ernähren. Eine mögliche Verringerung der inländischen Lebensmittelproduktion soll durch eine Veränderung des Konsumverhaltens (z.B. weniger Food-Waste) kompensiert werden.

Bio-Preise für alle

Eine Annahme der Initiativen schwächt die Ernährungssicherheit, gefährdet Arbeitsplätze und verlagert die Umweltbelastung ins Ausland. Deshalb empfiehlt der Bundesrat 2x Nein. Doch was sagen die Bio-Bauern dazu?

Mucca.ch hat mit Paul Ebnöther, Präsident der Schwyzer Bio-Bauern, gesprochen. Er betont: «Diese Initiativen sind nicht gratis. Ein Ja kostet. Und zwar uns alle. Die Lebensmittelpreise steigen, das ist sicher. Wir können nicht mehr wählen zwischen den M-Budget-Rüebli oder den dreimal teureren Bio-Rüebli. Wenn wir alle Bauern zwingen, auf Bio umzustellen, müssen wir mit höheren Ernteausfällen und Qualitätseinbussen rechnen. Und wenn weniger produziert wird, steigen die Preise.»

Um unsere Ernährung zu garantieren, müsste mehr importiert werden, eine Abkehr von der Regionalität und kurzen Transportwegen! Die Umweltbelastung wird höher und ins Ausland verlagert. In der Schweiz haben wir die am strengsten kontrollierte Landwirtschaftsproduktion auf der ganzen Welt. Wir werden viel und intensiv kontrolliert. Gleichzeitig werden in Labor-Stichproben immer wieder heikle Stoffe in ausländischem Essen gefunden. Wenn wir mehr importieren, machen wir uns nicht nur abhängiger vom Ausland, sondern verlieren auch die Kontrolle über die Herstellungsweise und wer unsere Nahrung produziert. In den letzten zwanzig Jahren haben wir 30% aller Landwirtschaftsbetriebe verloren. Schon jetzt können wir nur noch rund 60% der Bevölkerung mit inländischer Produktion sicherstellen. Mit einer Annahme der Initiativen wären es nochmals ca. 1,5 Mio. Menschen weniger.

An dieser Stelle möchte ich auch betonen, dass wir das Anliegen der Konsumenten ernst nehmen, zum Beispiel mit dem kürzlich vom Parlament beschlossenen Pestizidgesetz. Aber diese Volksinitiativen kommen zu schnell und sind zu extrem. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir über das Schicksal zehntausender Bauernfamilien entscheiden.

Auswirkungen auf die Bauern

In Brunnen am Vierwaldstädtersee führen Ursi und Armin von Euw ihren Hof in dritter Generation nach IP-Suisse Richtlinien. Früher lebten sie hauptsächlich von der Milchwirtschaft, heute ist die Direktvermarktung ein wichtiges Standbein. In ihrem Selbstbedienungs-Hofladen verkaufen sie die eigenen Früchte, Eier und Poulets sowie viele weitere Spezialitäten von Schwyzer Bauern.

Wer kauft bei euch ein?

Unsere Kunden sind Familien und Einzelpersonen, die sich bewusst regional und saisonal ernähren. Sie möchten wissen, was auf ihrem Teller landet. Sie möchten nicht nur die Menschen hinter ihrem Essen kennen, sondern auch die Produktionsweise. Vor allem bei den Eiern und beim Pouletfleisch merken wir, wie wichtig ihnen die Haltung der Tiere ist. Es ist uns ein Anliegen, dass diese jederzeit an die frische Luft können und sie genug Platz haben. Unsere Kunden vertrauen uns und wissen, dass wir täglich unser Bestes für unsere Tiere und Pflanzen tun.

Bei den Äpfeln, Birnen, Zwetschgen und Kirschen können wir mit einer grossen Auswahl punkten. Manche unserer Sorten gibt es in den Läden gar nicht mehr zu kaufen und sind wahre Geschmacksbomben. Um diese Vielfalt zu erhalten, möchten wir die alten Hochstammbäume auf dem Hof noch so lange wie möglich erhalten, auch wenn die Pflege und die Ernte der Früchte mit den hohen Leitern ganz schön aufwendig sein kann.

Weshalb habt ihr nicht auf Bio umgestellt?

In vielerlei Hinsicht, vor allem in der Milchproduktion und der Hühnerhaltung, wirtschaften wir bereits jetzt sehr nahe an den Bio-Standards. Der Hauptgrund, weshalb wir uns für IP-Suisse entschieden haben, ist der Obstanbau. Wir wohnen in einem Gebiet mit vielen Niederschlägen und einer damit verbundenen hohen Feuchtigkeit und Pilzbefall-Risiko. Dazu kommen Schädlinge wie Würmer, Läuse oder die asiatische Kirschessigfliege, die ganze Ernten vernichten kann. Wer einen eigenen Garten hat, weiss, dass jeder Salatkopf ein gefundenes Fressen für Schnecken und Blattläuse ist.

Wir alle, auch Bio-Bauern, betreiben Pflanzenschutz. Das ist nichts Negatives, sondern notwendig, da es um den Schutz der Pflanzen geht. Wir spritzen nur so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich. Denn weshalb sollten wir unseren eigenen Boden und Pflanzen darauf unnötig vergiften? Von den Erträgen dieses Bodens haben schon unsere Eltern und Grosseltern gelebt. Auch wir nutzen ihn nur für eine beschränkte Zeit, bevor er die Lebensgrundlage für unsere Kinder sein wird.

Und wenn man Stunden und Tage in die Pflege seiner Pflanzen investiert, wäre es unendlich traurig, zuschauen zu müssen, wie die vielen feinen Früchte den Schädlingen zum Opfer fallen, ohne dass wir etwas dagegen tun könnten. Gleichzeitig wissen wir, dass viele nicht bereit sind, wurmstichige und schlechte Früchte zu kaufen.

Was bedeutet ein Ja für euren Betrieb?

Niemand kann uns sagen, wie wir künftig die Hygienestandards einhalten sollten. Der Reiniger für die Melkmaschinen wird – genauso wie die Desinfektionsmittel für die Stallhygiene – verboten. Ohne dass bis anhin gute Alternativen gefunden wurden!

Aufgrund des Klimas und der Böden kann hier in der Innerschweiz und in Berggebieten kaum Ackerbau betrieben werden. Deshalb müssen wir das Getreide für unsere Tiere zukaufen. Die Initiative verweigert uns diesen Austausch und die Zusammenarbeit mit Kollegen, wenn wir weiterhin Direktzahlungen erhalten möchten. Sie erlaubt nur noch hofeigenes Futter. Somit müssten wir mit den Legehennen, Eiern und Poulet aufhören. Auch unsere Berufskollegen, Bio oder nicht, könnten keine Hühner oder Schweine mehr halten. Wir kehren also der Regionalität den Rücken.

Offen bleibt, wie der wachsende Bedarf an LEBENsmitteln dennoch gedeckt werden soll. Fördern wir so nicht die Massentierhaltung? Was ist mit Gewürzen wie Paprika für Chips, die gar nicht in ausreichender Menge im Ausland biologisch produziert werden? Wie weiter mit den 160’000 direkt betroffenen Arbeitsstellen in der Landwirtschaft und im Detailhandel, wenn durch höhere Preise der Einkaufstourismus zunimmt?

Wer erhält wie viel?

Es wäre schön, wenn unsere Kinder und Enkel den Hof einmal weiterführen. Wir lieben die Arbeit mit der Natur und den Tieren und sind dankbar, dass wir uns weitgehend selbst ernähren können. Jedoch spüren wir, dass unsere Berufsgruppe und unser Tun immer weniger geschätzt wird. Wir haben leider keinen Einfluss auf die Preispolitik der Detailhändler. Wir finden es absurd, dass vom Aufpreis, den Konsumenten für Lebensmittel zahlen, nur ein Bruchteil beim Bauern landet. Die Produzentenpreise sind deutlich zu niedrig und die Direktzahlungen helfen uns, trotzdem über die Runden zu kommen.

Zu extrem und am Ziel vorbei

Zurück zum wandelnden Giftcocktail. Wissen Sie, was in einem Jahr den Rhein runterfliesst? Gem. Bundesamt für Umwelt sind dies 65 Tonnen Industrie- und Haushaltschemikalien, weitere 20 t Arzneimittel, 20 t künstliche Lebensmittelzusatzstoffe und 1 t Pflanzenschutzmittel. Unsere Medikamente, Kosmetika, Sonnencrème, Antibabypillen, Farben, Rostschutzmittel – all das verunreinigt unser Wasser. Pflanzenschutzmittel machen weniger als 1 Prozent aus! Und dennoch ist die Schweiz das einzige Land, in dem ohne Bedenken aus dem Hahn trinke und meine Sportflasche beim nächsten Brunnen auffülle.

Ich habe kein Auto, mein Handy ist vierjährig, vor Kleiderläden fürchte ich mich und meinen Avocado-Konsum habe ich stark reduziert. All dies, weil ich den Schaden kenne, den wir im Ausland mit unserem Konsum anrichten. Meiner Meinung nach sind diese Initiativen nicht zu Ende gedacht und alles andere als sozial oder ökologisch. Wir möchten unsere Gesundheit und die Umwelt «schützen», drosseln die regionale Lebensmittelproduktion, nehmen dafür mehr Importe (=längere Transportwege) in Kauf und geben die Kontrolle über die Einhaltung der Produktions- und Tierhaltungsstandards weitgehend ab. Wir fordern weniger Food-Waste, schauen aber über die Ernteausfälle bei einer Zwangsumstellung aller Betriebe hinweg. Den Schweizer Apfel mit Schorf lassen wir im Regal liegen und greifen zum perfekten Apfel aus Neuseeland oder Südafrika.

Wir müssen nicht nur die Landwirtschaftspolitik, sondern auch den eigenen Konsum überdenken. Die Schweiz zählt bald 9 Mio. Einwohner und schönste Wiesen werden zubetoniert. Mehr Menschen führen zu mehr Verkehr, mehr Littering und mehr Schadstoffen im Wasser. Sollten wir dann wirklich die Landwirtschaft für all dies verantwortlich machen? Vielleicht beruhigt es das Gewissen einiger, jedoch bringt uns dieses Schwarz-Weiss-Denken nicht weiter.

Schon jetzt freue ich mich auf den Juni, denn dann gibt es zuhause wieder frische Kirschen. Ich liebe es, die süssen Früchte direkt vom Baum zu essen, auch wenn sie gespritzt sind. Ich bin so aufgewachsen und lebe immer noch. Ich weiss, dass meine Eltern nur so wenig wie möglich spritzen, um zu verhindern, dass in jeder Frucht ein weisser Wurm herumkriecht. Ist vielleicht sogar gesund, aber für die Deckung meines Proteinbedarfs sind mir die frischen Eier des Nachbarn immer noch lieber.

Mir ist es wichtig, dass ich weiss, wer mein Essen herstellt. Und dass wir nicht zu abhängig vom Ausland werden. Wenn in der nächsten Krise wieder nur jedes Land für sich schaut, sollte es nebst dem WC-Papier nicht auch noch an Grundnahrungsmitteln mangeln… Aus all diesen Gründen stimme ich am 13. Juni 2x Nein zu den extremen Agrarinitiativen.

 

 

Info

Autorin: Lara Steiner – der Beitrag ist im Original hier auf www.mucca.ch erschienen. Am Ende dieses Links sind auch alle zitierten Studien/Quellen zu finden.

 

(Bilder: zVg.)